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Noch einmal: Deutsche Stärke für Europa?
„In Bertolt Brechts Gedicht ›Fragen eines lesenden Arbeiters‹ heißt es: ›Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?‹ Aus diesen berühmten Gedichtzeilen lässt sich auch für unser Thema Honig saugen. Denn die Vorurteile der Mächtigen können nur Schaden anrichten, wenn sie sich als Vorurteile in den Köpfen der Masse wiederholen.“
Sir Peter Ustinov, „Achtung! Vorurteile“, 2003, S. 283.
„Europa ist aber nicht nur eine Friedensgemeinschaft, sondern auch eine Stabilitätsgemeinschaft“ dichtete Angela Merkel jüngst im Bundestag. Auf die Kritik ihrer europäischen Kollegen, die deutsche Exportwirtschaft konkurriere unter dieser Doktrin die Ökonomien ihrer Nachbarn nieder, erwiderte die freudlose Kanzlerin, man werde sich keinesfalls nach jenem richten, „der am langsamsten sei.“
Das sozialdarwinistische Fressen-oder-gefressen-werden als europäische Politik ist weder geschichtsbewußt noch vorausschauend, denn Europa ist entweder zivilisiert - also menschlich - oder es ist nicht. Gegen diese Einsicht organisiert die schwarz-gelbe Deutschlandkoalition ökonomisches Hauen und Stechen. Griechenland steht mit ca. 43 Milliarden US-Dollar bei deutschen Banken in der Kreide. Das ist die Kehrseite des Exportüberschusses der BRD von 100 Mrd. Euro jährlich und der von Josef Ackermann ausgegebenen Zielmarge einer 25-prozentigen Gewinnsteigerung der Deutschen Bank, mit dem insbesondere die südeuropäischen Länder wirtschaftlich bedrückt werden. Die Nachbarn kaufen auf deutschen Kredit. Die Regierung Griechenlands hat unter dem Druck der Bundesregierung ein 4 Mrd. Euro Sparprogramm (Rentenkürzungen, Mehrwertsteuererhöhungen, Lohnsenkungen etc.) beschlossen, damit es nicht aus der EU rausgeschmissen wird.
Diese „Stabilitäts- und Wachstumspolitik“ ist die okkupative Form der europäischen „Einigung“. Ideologisch abgestützt wird dies durch die gebetsmühlenartige Anbetung von „Standort“, „Markt“, „Stärke“ und „Leistung“ - was nichts weiter bedeutet als Machtpolitik, soziale Auslese, ein aufreibender Alltag und massenhafter Verzicht auf Wohlfahrt und kulturelle Emanzipation: Die Idiotie der Wirtschaftsliberalen beginnt dort, wo gilt „Man ist, was man hat“ und endet dort, wo die höchste Freiheit des Menschen sein Triumph über seine Mitmenschen sein soll („Exzellenz“). Die Konkurrenz ist ein moderner Götze, der täglich seinen erniedrigenden Dienst verlagt. Vernünftigerweise ist der Zweck des Menschen aber der Mensch.
Wofür wird also gearbeitet, gelernt, gedacht, gesprochen, gefeiert und gelacht?
Für die Deutsche Bank? Für ihre ordnungspolitischen Gendarmen in Berlin oder Brüssel?
Ist der tiefsitzende Respekt vor diesen Mächten nicht die Illusion, sie hätten noch irgendeine produktive gesellschaftliche Aufgabe?
Sind Gesundheit, soziale Sicherung, aufgeklärte Bildung und anregende Kultur, kritische Medien, ökologische Massenmobilität, demokratische Partizipation, menschenwürdige nützliche Arbeit mit hohem Lohnniveau (und bei verkürzter Arbeitszeit) je „von Oben“ geplant, organisiert und durchgesetzt worden?
Eine wahrhaft europäische Antwort darauf ist eine zweite Aufklärung: Der Ausgang aus der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit durch kollektiv durchdachte und realisierte politische Ansprüche auf ein besseres Leben aller.
Die zahlreichen Streiks, aufklärenden Aktionen und Schüler- und Studentenproteste in Griechenland oder Frankreich könnten praktische Anteilnahme von hier gut vertragen. Was allen nützt, wird nicht unser Schaden sein.