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Ein (selbst-)kritisches „Wir“ statt „Verwerte Dich selbst“!
„Eine aufrechte Haltung ist die Basis jedes selbstbewußten Auftritts. Die Kunst ist es, Präsenz zu zeigen ohne dabei verkrampft zu wirken.
Die Aufgabe: Holen Sie sich auf der Party ein Bier aus der überfüllten Küche! Um sich Raum zu verschaffen, müssen Sie innerlich wachsen: Gerade stehen, Füße sicher auf dem Boden, Schultern zurück, Hände und Arme frei am Körper hängen lassen. Den Kopf niemals senken oder zur Seite drehen. Nervöse Gesten [...] sind tabu. Sie signalisieren Unsicherheit. [...] Sprechen Sie den nächststehenden Partygast direkt, mit fester Stimme an: »Gib mir doch bitte ein Bier!«“
ZEIT Campus, Service Spezial „Schlüsselqualifikationen“, „Feilen am Ich“, November/Dezember 2008.
Eine scheinbar aufrechte Haltung kann Ergebnis militärischer Übung sein. Die äußere Form - stramm und unnahbar - entspricht auch ohne sichtbare Verkrampfungen der inneren Verheerung eines Menschen, der ausgebildet ist, im militärischen Ernstfall über Leichen zu gehen. In modernen Zeiten wird der internationale Kampf der Wirtschafts- Standorte allerdings häufig nicht militärisch, sondern ökonomisch ausgetragen. Als „Armeen“ sind die zahlreichen wissenschaftlichen „Werkzeuge“ der großen Industrie, der Banken und Versicherungen, der staatlichen Bürokratie, der Lernanstalten, der Medien und der mehr oder weniger grellen Unterhaltung vorgesehen. Die dreist kulturfeindliche Forderung „für die Wirtschaft auszubilden“, entspricht dieser dominanten politisch-ökonomischen Praxis.
Zu diesem Zweck werden neben Rudimenten allgemeiner Bildung und berufsspezifischen Lerninhalten sogenannte Schlüsselqualifikationen („soft skills“) gefordert. Sie sind die kulturelle Praxis des lächelnd ausgefahrenen Ellenbogens auf der Kampfbahn (Karriere) des „individuellen Aufstiegs“. Permanenter Bluff, Persönlichkeitsmarketing, Selbstverleugnung und Mißtrauen gegen seinesgleichen sollen konkurrenzverschärfend trainiert werden. Für diese Orientierung wird sich die Angst vor sozialer Ungesichertheit zunutze gemacht. Denn der Kapitalismus bedeutet für die meisten - auch schon ohne globale Großkrise - ein Leben in sozialer Bedrängung. Diese ist durch die Abwälzung der Verluste der „Finanzkrise“ auf die Bevölkerung, durch Lohndruck,Preissteigerung und nicht zuletzt durch Studiengebühren erheblich gesteigert. Angesichts dessen soll sich geschmeidig machen, wer nicht untergehen will. Wer nicht gefällig in der Konkurrenz besteht, sei demnach selbst schuld. So werden Entfremdung
und Depressionen geschürt. „Soft skills“ sind also die - geschminkte - Verneinung von kritischer Anteilnahme an den KommilitonInnen, gesellschaftlich nützlicher Inhaltlichkeit und demokratischer Mündigkeit im Studium.
Die Alternative besteht in der aufmerksamen Verständigung miteinander, in Nachdenklichkeit und kommunikativer Muße, in der Kritik an Studiengebühren, Leistungsdruck, Unterfinanzierung, inhaltlicher Fremdbestimmung und dem Mangel an kritischer Partizipation. Sie besteht damit in dem solidarischen Engagement für Gebührenfreiheit, der Humanisierung und Überwindung von BA/MA und der Demokratisierung in der Hochschule und der humanen Entwicklung der Gesellschaft.
Wer für ein besseres Leben Aller systembedingte Grenzen überschreitet, richtet sich und andere auf. Lernen und Leben sind dann eine erfreuliche Einheit.
„Was du verschweigst,
Was du den andern nicht zeigst,
Was dein Mund spricht
Und deine Hand tut,
Es kommt ans Licht.
Sei ohnedies gut.“
Joachim Ringelnatz, „Kinderverwirrbuch“, 1931.
Die anderen Teile des Semesteranfangszeitung:
I. Es ist genug.
II. Die kooperative Durchsetzung des Gewaltverzichts
IV. Wir über uns: Lernen: Veränderungswillen für eine humane Gesellschaft