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Achtung: Vorurteile!
,,Es gibt Leute, die wollen lieber einen Stehplatz in der ersten Klasse als einen Sitzplatz in der dritten. Es sind keine sympathischen Leute.“
Kurt Tucholsky, ,,Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 8. März 1932, S. 377.
Leitende Ärzte in Hamburg machen mobil gegen die begonnene Einführung der Primarschule (Gemeinsames Lernen von Klasse 1-6). Das ist interessant: Kann jemand, der für eine Zwei-Klassen-Schule ist, gegen eine Zwei- Klassen-Medizin sein? Ist Bildung weniger ein Grundrecht als Gesundheit?
Sie unterstützen die Kampagne ,,Wir wollen lernen“. Schon deren Titel suggeriert heuchlerisch, daß nicht alle Kinder lernen wollten, bzw. die Kinder anderer Leute eine Gefahr für den eigenen Nachwuchs seien. Das ,,Argument“ dieser Exklusivität gewohnten Mitbürger und Mitbürgerinnen ist erpresserisch: Das gemeinsam längere Lernen würde den ebenso elitären medizinischen Nachwuchs vom Zuzug nach Hamburg abhalten. Junge Fachkräfte seien so schwer zu gewinnen. Die Patienten sollten also im eigenen Interesse gegen die Schulreform stimmen.
So sprechen Leute, die gewohnt sind, Anordnungen zu geben.
Das gemeinsame längere Lernen hat den Sinn, die strukturelle Ungleichheit zwischen diesen kleinen Herrschaften und ihrem ,,Personal“ überwinden zu helfen. (Die wirklich Herrschenden - größere Aktienbesitzer und Konzerneigner - werden davon wohl noch relativ unberührt bleiben.) Die ,,Begabung“ der Zöglinge dieser gehobenen Mittelklasse sind nichts weiter als Mehrausstattung mit materiellen Gaben, die sich als Vorteil in der Aneignung von Kultur, Wissenschaft und sozialem Leben erweist. Seit langem ist aus der empirischen Bildungsforschung bekannt, daß längeres gemeinsames Lernen den Lernerfolg keiner Schülergruppe mindert, sondern eine zwingende - wenn auch nicht die einzig hinreichende - Voraussetzung für eine wachsende Beteiligung aller Menschen an höherer Bildung ist. Der materielle Mehrbedarf inklusiver Bildung muß endlich öffentlich finanziert werden. Erst in so einem neuen System können neue, solidarische Lernformen und besondere Förderung für alle gedeihen.
Der faule Kompromiß zwischen Schwarz und Grün, also zwischen dem auf die preußische Klassenteilung zurückgehenden dreigliedrigen Schulsystem und der Forderung nach einer gemeinsamen Schule bis mindestens zur 9. Klasse, ist die ,,Primarschule“. Nach dieser ,,dürfen“ einige Schüler das sechsjährige Gymnasium und alle die siebenjährige Stadtteilschule besuchen. Auf beiden können sie das Abitur machen. Dieses Zwei-Säulen-Modell birgt immer noch die Möglichkeit einer Teilung der Schülerinnen und Schüler in Masse und Elite und gefährdet zudem die reformpädagogischen, integrativen Ansätze in Hamburg. Gleichzeitig stellen schon zwei weitere Jahre gemeinsamen Lernens in der Primarschule und die Abschaffung des Sitzenbleibens das selektive Bildungssystem ideologisch in Frage, weshalb die Abwehr der Rechten so hochkocht. Dem Sortieren und Abschulen und der Verweigerung, soziale Unterschiede durch besondere Bemühungen der Schule auszugleichen, kann und muß mit einer Schule für Alle konsequent der Garaus gemacht werden.
Die konservative Restauration einer streng sozial hierarchisierten Gesellschaft durch die Teilung im Bildungssystem - durch (vor-)schulische Auslese, Bachelor für die Mehrheit und Master für die sogenannte Elite, Studiengebühren und ,,Leistungs“-Stipendien - braucht deshalb auch beim Volksentscheid Contra.