Menü | HomePublikationenharte zeiten › Flugblatt von harte zeiten vom

Erschütterung

,,Krugman weist nach, dass die neue soziale Ungleichheit in Amerika politisch gewollt und dirigiert wurde. Die hochelaborierte wissenschaftliche Debatte darüber, ob es den Menschen heute besser gehe als vor fünfundzwanzig Jahren konterte er mit einer seine Fachkollegen sprachlos machenden Antwort: »Ist es nicht bezeichnend, dass wir das überhaupt debattieren? Damals gab es kein Internet, keine Computer, keine Handys, keine Bar-Code-Scanner, und trotzdem wissen wir nicht, ob es den Menschen heute ökonomisch besser geht? Wo sind die Rationalisierungeffekte denn hingegangen?« [...] Nicht lange, und eine jetzt noch in Schockstarre befindliche Gesellschaft, wird ausrechnen was nur eine Promille des augenblicklich in der Finanzkrise vernichteten Kapitals in der Bildung bewirkt hätte. Sie wird dieses Geld zurückfordern.“
,,Was uns arm gemacht hat“, Frank Schirrmacher in der FAZ vom 14.10.2008 über den aktuellen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman.

,,Jetzt kramt die CDU ganz tief in ihren Archiven, um irgendeinen Beleg zu finden, dass sie in Wahrheit schon immer vor der Finanzkrise gewarnt hat! Jetzt will sie auf einmal sogar Managergehälter beschneiden! Was ist das für ein Zickzack-Kurs - vom Leipziger Programm und Professor Kirchhof zurück zum Ahlener Programm. Fehlt nur noch, daß die CDU demnächst wieder die Sozialisierung aller Schlüsselindustrien fordert!“
Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede auf dem SPD-Sonderparteitag am 18.10.2008 in Berlin.

Vorweg gesagt: Die Sozialisierung der Schlüsselindustrien (besonders wertschöpfungsrelevante Industrien wie Fahrzeugoder Maschinenbau) ist eine höchst richtige Forderung, die aus den Prinzipien des Potsdamer Abkommens von 1945 zur Entmilitarisierung und Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche in Deutschland - also auch der Wirtschaft - erwächst. Sie ist aktuell und überfällig, weil eine allgemein verantwortliche Wirtschaft unter der Dominanz privater Monopole nicht möglich ist. Die Vorstellung, daß ausgerechnet CDU/CSU, die seit vielen Jahrzehnten wichtigste Funktionspartei des Monopolkapitals in der BRD, diese Lehren aus Faschismus und Weltkrieg nun wieder entdeckt, ist allerdings recht abwegig. Wenn Konservative, heißen sie nun Merkel, Seehofer oder McCain, in ihrer Rhetorik die ,,kleinen Leute“ entdecken, dann geht es darum, den Lämmern die Schlachtbank angenehmer zu machen.

Ebenfalls abwegig ist es aber, wenn sich die SPD in Form ihres Kanzlerkandidaten jetzt angesichts der weltweiten Finanzkrise als eigentlicher Konservator von kapitalistischer Stabilität und Ordnung empfiehlt. Denn eben die neoliberale (Un)Ordnung der weitgehend unbeschränkten ökonomischen und kulturellen Herrschaft ,,des Marktes“ (also des Rechtes des Stärkeren) war es, die seit Mitte der 1970er Jahre ein gewaltiges globales Programm der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben begründet hat. Mit der aktuellen Krise zerbricht die Legitimation dafür, daß den Superreichen dieser Welt um jeden gesellschaftlichen Preis die Spekulation auf immer phantastischere Renditen gesichert wird, während die große Mehrheit der Bevölkerung trotz enormer Produktivitätsfortschritte den Gürtel immer enger schnallen soll. Eine Verstaatlichung und Demokratisierung des Finanzunwesens und der großen Industrie wären deshalb vernünftige Schlußfolgerungen. Inwieweit sie gezogen werden, ist eine Frage engagierter Aufklärung von links.

Die Aussicht auf einen erneuten gesellschaftlich-fortschrittlichen Aufbruch großer Bevölkerungsteile macht dem deutschnationalen Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, derartig Sorgen, daß er seinen Lesern den scharfen Bush-Kritiker und moderaten Keynesianer Paul Krugman (Wirtschaftsnobelpreisträger 2008) zur Lektüre empfiehlt: Gewisse Zugeständnisse scheinen ihm zur Bewahrung des Status Quo wohl notwendig zu sein. Doch damit sollte sich niemand abspeisen lassen. Eine echte Revision der neoliberalen Verwertungsdoktrin bedeutet nicht nur mehr Geld für soziale Absicherung, nützliche öffentliche Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Kultur - die ganze Grundlogik des ,,verwerte dich selbst“ als Ordnungsprinzip menschlichen Zusammenlebens gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Eine lebendige argumentative politische Debatte über gesellschaftliche Entwicklungsoptionen statt Herrschaft des Sachzwanges im Dienste des Wirtschaftsstandortes, streitbare Solidarität für die Verbesserung der Lebensbedingungen aller statt medial orchestrierter Durchsetzung der Partikularinteressen des großen Geldes - so viel Erschütterung des bestehenden sollte man sich schon gönnen.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Montag, den 20. Oktober 2008, http://www.harte--zeiten.de/artikel_772.html