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Freier Fall für Alle

In einem Land nach dem anderen erringen in Europa derzeit rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien Wahlerfolge. Sie verbinden dabei die Vision einer geordneten, autoritären Gesellschaft mit der glaubhaften Versicherung grundlegender Veränderungen und binden so neben dem rechten Rand vorwiegend diejenigen Wähler, die durch den jahrelangen Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften massiv verunsichert sind. Reale Politik dieser Rechtsregierungen ist eine Zuspitzung der Ausbeutung durch Kommerzialisierung, Privatisierung und Entdemokratisierung, wobei die gesteigerte Konkurrenz die Unterordnung der Einzelnen erzwingen soll, um so die eh schon brutalen Verhältnisse aufrecht zu erhalten.

Total nach Rechts?

Zur Bundestagwahl treten CDU/CSU und FDP genau mit dieser Mischung von Rechtspopulismus und Veränderungsversprechen an. Dabei übernehmen die Christdemokraten mit Stoiber an der Spitze den Part für überkommene und reaktionäre Werte wie "Familie" und "Nation" einzutreten. Mit "aufgeklärtem Patriotismus" wird die 'Volksgemeinschaft' beschworen ("Die Deutschen sind bereit etwas zu leisten, für sich und für andere [...] von der Krankenschwester bis zum Unternehmer") und es wird dafür geworben, gesellschaftliche Probleme einfach wegzuregulieren: "Deutschland muss Zuwanderung stärker steuern und begrenzen", denn es gelte die "Identität Deutschlands [zu] bewahren"; "konsequente Verfolgung und gerechte Bestrafung" wird gefordert gegen "die Verwahrlosung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Plätzen durch Drogenszenen und Alkoholismus-Milieus"; die "Pflicht, [...] gemeinnützige Arbeit zu leisten", sei durchzusetzen.

Große Einigkeit herrscht mit der FDP darüber, die "Deregulierung wo möglich" voranzutreiben (bis hierher alle Zitate CDU/CSU "Regierungsprogramm", restliche Zitate FDP "Bürgerprogramm"), wenn es gegen das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem, die Arbeitslosenversicherung und öffentliche Unternehmensbeteiligungen geht. Die Freiheitlichen agitieren dann in voller Schärfe für radikale Veränderungen. Unter dem Motto "mehr Eigenverantwortung" werden Arbeitslosenhilfe, Kündigungsschutz denunziert, für Massenarbeitslosigkeit ursächlich zu sein, "geringerer Lohn oder längere Arbeitszeit" seien die Lösung; Frauen- und Behindertenförderung werden zu "Beschäftigungshemmnissen" umgedeutet und sollen beseitigt werden. "Eigenverantwortung" als freier Fall für Alle.

Entsprechend sollen Kranken- und Pflegeversicherung der 'Leistungsfähigkeit' des Einzelnen überlassen werden. Statt sozialem Wohnungsbau soll Eigentum gefördert werden. "Die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge ist abzuschaffen" und Scheinselbstständigkeit zu fördern; um die Ausbeutung weiter zu steigern, sollen alle gesellschaftlichen Bereiche umfassend dem Diktat von Konkurrenz und Wettbewerb unterworfen werden. Für die Bildungspolitik heißt das: "Kampf um die besten Köpfe", "Bildung [als] der entscheidende Standortfaktor" zur Sicherung der "internationale[n] Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands" indem "die Menschen [gut] für den Beruf ausgebildet sind" und "Chancengleichheit [...] bedeutet Gleichheit der Chancen am Start, jedoch nicht Gleichheit der Ergebnisse am Ziel." Wer versagt, stürzt ab.

Ein weiter so ist nicht mehr möglich.

1998 wurde die rot-grüne Koalition in der Hoffnung, den durch 16 Jahre schwarz-gelber Deregulierung verschärften Kapitalismus abzumildern, gewählt. Spätestens der Beginn des NATO-Angriffskrieges auf Jugoslawien markiert jedoch den Wendepunkt. Statt substanzielle Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen zu realisieren, wurden gesellschaftliche Probleme repressiv beantwortet. Die Demobilisierung fortschrittlicher gesellschaftlicher Kräfte durch das Bomben und durch faule Kompromisse, wie z.B. Steuergeschenke an Unternehmen, führte dazu, dass die Bundesregierung dem Druck des Kapitals schließlich unterlag. Heraus kam eine - gemessen an Schwarz-Gelb - abgemildert fortgesetzte Verschärfung der Ausbeutung und Konkurrenz von Rentenreform bis Afghanistan.

Mit links dagegen

Es ist also überdeutlich: Die rot-grüne Variante des ein-bisschen-gezähmten Kapitalismus bietet keine ernstzunehmende Alternative. Sie hat die Prämissen rechter Politik - die Unterordnung des Menschen (und des Menschlichen) unter "höhere" Werte wie Nation oder Standort - übernommen.

Gibt es also keine Alternative? Ganz im Gegenteil: Es muss nur eine linkere sein. Denn statt der Brutalisierung, Konkurrenz und Individualisierung ist die solidarische Kooperation für Demokratie, Frieden und soziale Gleichheit notwendiger denn je. Um dies zu erreichen, ist das eigentätige, solidarische Wirken aller in wissenschaftlicher Weltaneignung, Arbeit und kultureller Praxis zur humanen Gestaltung der ganzen Gesellschaft und damit für tatsächliche persönliche Entfaltung unabdingbar.

An den Hochschulen bedeutet dies, für die demokratische Verfügung der am Wissenschaftsprozess Beteiligten über Ziel, Inhalt und Methode von Lehre und Forschung kooperativ zu wirken. Dafür ist durchzusetzen, dass immer mehr Menschen an Bildung partizipieren und Wissenschaft für soziale, friedliche und demokratische Entwicklung betreiben. Dafür muss die Freiheit der Wisssenschaft von ökonomischen Zwängen der Kapitalseite, z.B. bedarfsgerechte Hochschul- und Studienfinanzierung, erkämpft werden, um gesellschaftskritische Wissenschaftsinhalte zu ermöglichen.

Frieden, soziale Gleichheit und Verfügung über die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen also auch an den Hochschulen erstritten werden. Will man dies erfolgreich tun, muss jedoch aus den Hochschulen heraus im Bündnis mit Gewerkschaften, Friedensbewegung und anderen fortschrittlichen Kräften die radikale Kritik am Kapitalismus mit der Perspektive einer besseren Gesellschaft verbunden werden - mit der des demokratischen Sozialismus!

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: juso-hochschulgruppe & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Donnerstag, den 30. Mai 2002, http://www.harte--zeiten.de/artikel_67.html