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Zum Geleit XXXIII

Wer hat Angst vor der eigenen Wirkung?
oder
Das gedämpfte Lachen

1) Untrügliche Symptome

,,Amerikaner pflegen sich bei Grippe Umschläge mit heißem Schwedenpunsch zu machen; Italiener halten den rechten Arm längere Zeit in gestreckter Richtung in die Höhe; Franzosen ignorieren die Grippe so, wie sie den Winter ignorieren, und die Wiener machen ein Feuilleton aus dem jeweiligen Krankheitsfall. Wir Deutsche aber behandeln die Sache methodisch: Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fiber haben: dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen.“
Kurt Tucholsky, ,,Rezepte gegen Grippe“, 1931.

Die geschäftssüchtige Gesellschaft kommt gar nicht mehr raus aus der schweren Verschnupfung - immer zieht's irgendwo her.
Die Betroffenen suchen Rat: Weder scheint richtig, die Decke über den Kopf zu ziehen, noch erkältet im Regen herum zu laufen.
Fern ab strenger Maßregeln gilt (in Hamburg): Die passende Kleidung für das jeweilige Wetter ist erforderlich. Und die Erhöhung der Abwehrkräfte hilft gegen unausgesetzte Attacken.

2) Wahrheit heilt

,,Wer die Krisis nicht fühlt, nicht mit dem eigenen Wesen daran teil hat, der lebt nicht. Wer sie zwar fühlt, aber sich rein konservativ dagegen verstockt und sich vergrämt ans Alte klammert, schließt sich gleichfalls vom Leben aus. Der Wahrheit ins Gesicht sehen zu können, dieser Mut ist die erste Bedingnis des Lebens; denn Wahrheit und Leben sind zu sehr ein und dasselbe, als daß ein Leben außerhalb der Wahrheit überhaupt denkbar wäre.“
Thomas Mann, ,,Ansprache an die Jugend“, 1931.
Vortrag zur 400-Jahr-Feier des Katharineums zu Lübeck.

Die größte unproduktive Anstrengung besteht darin, die Realität der eigenen Verantwortung für eine humane Entwicklung der Menschheit zu leugnen. Das vermeintlich Kleine hat große Bedeutung für die Allgemeinheit respektive das eigene Befinden - so oder so.

3) Richtung und Charakter der Unternehmungen

,,>>Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Untätigkeit, knechtischen Stillstand... . Es ist etwas Bedenkliches um die Musik, meine Herren. Ich bleibe dabei, das sie zweideutigen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie für politisch verdächtig erkläre.<<“
Thomas Mann, Der Zauberberg, ,,Politisch Verdächtig!“, 1924. Rede von Ludovico Settembrini an Hans Castorp und Joachim Ziemsen während der Sonntagsmusik im Sanatorium ,Haus Berghof'.

Nicht immer sind Wachheit, Humor, Wahrheitsfindung und pflegliche Orientierung in Werk und Spiel: Mit der Wissenschaft verhält es sich ähnlich wie mit der Musik. Gesteigerte Aufmerksamkeit vermeidet Verirrungen. Die Angst zeigt auch an, was man sich trauen sollte. Oh, heilige Dialektik!

4) In Zukunft

,,Die Marzipanfiguren waren den gierige Enkeln zum Opfer gefallen. Auch diese Generation, die dort heranwächst, taugt nichts, und wenn je eine Generation etwas getaugt hat - ich zweifele daran -, so komme ich doch zu der Überzeugung, daß es die Generation unserer Väter war.“
Heinrich Böll, ,,Nicht nur zur Weihnachtszeit“, 1951.

Wer außer den Kriegshelden verdient eigentlich Achtung, Sympathie und Vertrauen?
Eigentlich fast alle.
Jedenfalls alle, die ihre Lage als gemeinsame erkennen und unbeirrt die Bedingungen erträglich gestalten.
Die Zivilisation ist ein unabgeschlossenes Werk.

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 15. Mai 2007

Veröffentlicht am Dienstag, den 15. Mai 2007, https://www.harte--zeiten.de/dokument_591.html