Menü | HomePublikationenharte zeiten › Flugblatt von harte zeiten vom

Selbstbestimmung, tödlich einsam

Die Debatte um die sogenannte Sterbehilfe

,,Allein schon das Wort ‘Mord'. Urban möchte kein Selbstmörder sein. Er wählt den Freitod, weil ihm eine unheilbare Krankheit keinen Ausweg mehr läßt.“
Bartholomäus Grill, ,,Ich will nur fröhliche Musik“, Die Zeit, 8. Dezember 2005.*

,,Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach' ich auf...“
Thomas Mann, ,,Zauberberg“, 1924.

Leben!

Es gibt keine guten Gründe es zu verlassen oder zu rauben.

Im Bundestag aber wird eine weitgehende Legalisierung der ,,passiven Sterbehilfe“ erwogen (Unterlassung medizinischer Hilfeleistungen bei schwer kranken Menschen). Die liberale Presse (z.B. Stern und ZEIT) debattiert absichtsvoll die ,,aktive Sterbehilfe“, das Töten auf Verlangen. Mit eben diesem Programmpunkt zieht auch der demissionierte CDU-Justizsenator Roger Kusch seine neue Partei ,,Heimat Hamburg“ auf.

Geht es hier um die konsequente Weiterentwicklung der Gesundheitsreform?

Von einer ,,Zivilisation des Todes“ ist die Rede und vom ,,Recht am eigenen Tod“, dem ,,selbstbestimmten Sterben“. In diesem Diskurs stirbt der Schwerkranke vor allem, er lebt nicht mehr. Aus diesen Formeln atmet ein fataler Zeitgeist. ,,Unheilbar“, ,,krank“, ,,schmerzvoll“, das seien Attribute des Schreckens, der Schwäche, der Sinnleere und Aussichtslosigkeit. Der Mensch wird nicht als soziales, geistig-kulturelles Wesen, mit eigener Geschichte und Vorgeschichte, positiven wie negativen Erfahrung, sozialen Bezügen und Plänen begriffen, sondern sei dominiert von seiner gegebenenfalls maroden Physis. Wenn das bei ,,Kranken“ so ist, ist das immer und für alle so. Das ist die Kehrseite von Wellness, Fitness, Flexibilität, Kauflust und Karriere, die Dich hip machen.

Der Zynismus neoliberaler Denkungsart kennt keine Grenze; von ,,nicht mehr lebenswert“ zu ,,lebensunwert“ (so rechtfertigten die Nazis die Euthanasie) ist es kein großer Schritt. Die liberale ,,Selbstbestimmung“, auf die legitimatorisch Bezug genommen wird, ist die Freiheit, sich einer üblen Lage zu fügen. Mit kritischer Souveränität hat das nichts zu tun. Auch wenn das Leben jedes Individuums irgendwann endet, ist es ein erheblicher Unterschied, ob jemand ,,noch einige Wochen“ oder über hundert Jahre lebt. Erheblich ist auch, ob das Leben von anderen gewollt wird oder ob man ,,zur Not beim Ableben behilflich“ ist.

Hinter der Diskussion um die Legalisierung der ,,Sterbehilfe“ wird die tiefe Verzweiflung einer ganzen Gesellschaft erkennbar. Welchen Wert, welche Bedeutung hat der Einzelne? Der Mensch? Ist er Ware (,,Humanressource“)? Werkzeug? Konsument? Schmarotzer?

Warum erscheint das Leben des Einzelnen bei dem immensen Reichtum geistiger und materieller Errungenschaften immernoch schicksalhaft?

Erlaubt einem Verzweiflung alles? Auch sterben? Auch sterben lassen?

Gute Ernährung, eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, emanzipatorische Bildung und Kultur, soziale Sicherheit und humane Arbeit, demokratische Partizipation aller und die solidarische Entfaltung eines Jeden sind die wesentlichen, möglichen und zu erkämpfenden Elemente eines aussichtsvollen und sinnreichen Lebens.

Duldung ist weder stark, noch frei. Zu ihr muß ,,Nein!“ gesagt werden.

* Bartholomäus Grill begleitete seinen Bruder zu der Sterbehilfeeinrichtung ,,Dignitas“ in die Schweiz, wo dieser sich vergiften ließ. Für seine Bericht über die Tötung seines Bruders (und seine Behilfe) hat Grill den Henri-Nannen-Preis gewonnen. Der von Gruner & Jahr (u.a. Stern) verliehene Preis hieß bis ins letzte Jahr nach dem Kommunisten, Widerstandskämpfer und Journalisten Egon Erwin Kisch-Preis.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Montag, den 18. Dezember 2006, http://www.harte--zeiten.de/artikel_523.html