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Die Grenzen der Duldung und der erforderliche Richtungswechsel
1) Die eingebildete Stärke des Leidens
"So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen
viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt,
bei alldem aber meist in trüber Laune, die immer
noch trüber wurde dadurch, daß niemand sie
ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn
auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig?
Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn
bedauerte und ihm erklären wollte, daß seine Traurigkeit
wahrscheinlich von dem Hungern käme,
konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit,
geschehn, daß der Hungerkünstler mit einem
Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller
wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann."
Franz Kafka, "Ein Hungerkünstler", 1922.
Wenn die Sachzwänge sich im Kopfe stapeln und sie
Dir grinsend sagen, jetzt helfe nur noch Ausdauer,
gnadenlose Ausdauer, ja, dann folgt, wenn niemand
Halt! ruft, unweigerlich das große Märtyrer-Rennen.
Verlierer: Alle.
2) Wer siegt?
"Die Moritat von der großen Fusion: Eines Tages schlug das Huhn dem Schwein eine enge Zusammenarbeit vor. Das Huhn sprach also von Kooperation, es sprach von Fusion und es schwärmte von den Chancen, die darin stecken - nach einer ›gewissen Durststrecke am Anfang‹ freilich. Das Schwein hörte sich schweigend an, was das Huhn zu sagen hatte, und fragte dann, wie die Sache denn genau aussähe. ›Wir gründen die Firma 'ham and eggs'‹, sagte das Huhn. darauf das Schwein irritiert: ›Du bist verrückt, das bedeutet doch meinen sicheren Tod!‹ Das sei der Sinn der Kooperation, bemerkte das Huhn
trocken."
Heribert Prantl, "Kein schöner Land/Die Zerstörung der
sozialen Gerechtigkeit", 2005, S. 89.
Die große Vorteilsnahme ist ein grenzenloses Werk
der Zerstörung.
Die Doktrin des Sozialdarwinismus veräzt die Freude
von Beginn an.
Wer siegt?
3) Reines Rechnen radiert am Charakter
"Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen
und ewig auf der Folter der Geschäfte zu
liegen; die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung."
Friedrich Schiller, "Die Schaubühne als eine moralische
Anstalt", 1784.
Es heißt auch: Wer oder was sich rechnet, darf bleiben.
Wer oder was bleibt übrig? Auf welchen Rest
schrumpft die Persönlichkeit?
Das Elend wird durch seine korrekte Verwaltung
nicht besser.
Die Kunst hilft, sich heiter zu distanzieren.
4) Frei von ist frei für
"Und die neue Stadt, das ist die Stadt, in der die weisen
Männer, die Lehrer und die Minister, nicht lügen,
in der die Dichter sich von nichts anderem verführen
lassen, als von der Vernunft ihres Herzens,
das ist die Stadt, in der die Mütter nicht sterben und
die Mädchen keine Syphilis haben, die Stadt, in der
es keine Werkstätten für Prothesen und keine Rollstühle
gibt, das ist die Stadt, in der der Regen Regen
genannt wird und die Sonne Sonne, die Stadt, in der
es keine Keller gibt, in denen blaßgesichtige Kinder
nachts von Ratten angefressen werden, und in denen
es keine Dachböden gibt in denen sich die Väter erhängen,
weil die Frauen kein Brot auf den Tisch
stellen können, das ist die Stadt, in der die Jünglinge
nicht blind und nicht einarmig sind und in der es keine
Generäle gibt, das ist die neue, die großartige
Stadt, in der sich alle hören und sehn und in der alle
verstehn: mon coeur, the night, your heart, the day,
der Tag, die Nacht, das Herz."
Wolfgang Borchert, "Im Mai, im Mai schrie der
Kuckuck", in einem Zyklus von Erzählungen aus dem
Herbst 1946 bis zum Sommer 1947.
Zwei Weltkriege haben gegen die Barbarei auch die
Verneinung der Entmenschlichung, das Nie wieder!,
hervorgebracht.
Die Vorstellungen, Forderungen und humanen Begehrlichkeiten
nach Frieden, sozialer Wohlentwicklung,
Bildung und Kultur für Alle, pfleglicher Gesundheitsversorgung
und insgesamt freundlichen Lebensumständen
entstehen in gesellschaftlichen Krisen
immer wieder neu. Die Bedingungen sind
menschlich zu gestalten. Die Mehrheit kann sich dadurch
selbst verwirklichen.
Schönheit gedeiht in der Überwindung der Mühseligkeit
menschlicher Existenz.
Golnar Sepehrnia, Olaf Walther
Hamburg, den 14. November 2006
Flugblatt zur Sitzung des Akademischen Senats