Menü | HomePublikationenharte zeitenSP-Wahl WS 2002/2003 › vom

SP03 Artikel 4/9

Nie Wieder!

Zur Geschichte der I.G. Farben und ihren Auftrag an eine kritische Wissenschaft

"Der Mann mit dem weißen Kittel schrieb Zahlen auf das Papier. Er machte ganz kleine zarte Buchstaben dazu. Dann zog er den weißen Kittel aus und pflegte eine Stunde lang die Blumen auf der Fensterbank. Als er sah, daß eine Blume eingegangen war, wurde er sehr traurig und weinte. Und auf dem Papier standen Zahlen. Danach konnte man mit einem halben Gramm in zwei Stunden tausend Menschen totmachen.

Die Sonne schien auf die Blumen. Und auf das Papier."

(Wolfgang Borchert)

"Schluss mit den Aktien des Todes" ist auf Transparenten zu lesen und "I.G. Farben auflösen - sofort!" Ehemalige ZwangsarbeiterInnen werden vom Sicherheitspersonal unsanft aus dem Saal geschoben, damit der einstige Weltkonzern und Betreiber des KZs Monowitz (Auschwitz III) I.G. Farben in Ruhe einen neuen Aufsichtsrat wählen kann. Szenen der Nachkriegsjahre? Keineswegs: Frankfurt am 18. Dezember 2002. Zwar hatten die Alliierten bereits 1945 beschlossen, das Chemie-Kartell zu entflechten und das Restvermögen in die I.G. Farben i.A. (Interessengemeinschaft Farben in Abwicklung) überführt - doch mit deren Aktien wird bis heute spekuliert, eine rasche Liquidation blieb ebenso aus wie angemessene Entschädigungszahlungen an die ZwangsarbeiterInnen. 16 Organisationen aus ganz Deutschland riefen in diesem Jahr zu Protesten gegen die Aktionärsversammlung auf - unter ihnen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten sowie die Bundesfachtagung der Chemie-Fachschaften.

Im Krieg fürs Vaterland ...

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten im Faschismus ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, um einen internationalen Krieg und die Ermordung von Millionen Menschen in Konzentrationslagern zu ermöglichen. Chemie-Konzerne verdienten an todbringenden Waffen, an Medikamenten für sterbende Soldaten, an der massenhaften Versklavung von Häftlingen und schließlich am Völkermord in den Konzentrationslagern. Angeblich "im Dienste der Wissenschaft" wurden Häftlinge durch medizinische Versuche zu Tode gequält. Im I.G. Farben-eigenen KZ in Monowitz wurden Tausende "durch Arbeit vernichtet". Der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung wurde durch das Giftgas Zyklon B "perfektioniert". Die I.G. Farben, die 1925 aus einem Kartell von Chemiegiganten entstand, war der größte Einzel-Financier der NSDAP. Schon der Vier-Jahres-Plan von 1936, der Deutschland in vier Jahren kriegsfähig machen sollte, war unter maßgeblicher Mitarbeit der I.G. Farben entstanden. Durch seine Zusicherungen machte der Chemie-Gigant den zweiten Weltkrieg überhaupt erst möglich. Er selbst verdiente sowohl an der Kriegsführung Deutschlands als auch - über internationale Tochtergesellschaften - an derjenigen Amerikas.

... stets für den Profit

In den Nürnberger Prozessen wurden 1947 nur 13 der 23 angeklagten I.G Farben-Funktionäre zu geringen Haftstrafen verurteilt - Strafen, die "jedem Hühnerdieb damals zur Freude gereicht hätten", wie der Spiegel später kommentierte. Die Sorge galt schon damals weniger dem antifaschistischen Auftrag als der Gunst der Industriellen. So befürchtete der amerikanische Ankläger Jackson bereits im Oktober 1946, dass die "öffentliche Attacke gegen die Privatindustrie - und zu einer solchen wird es im Laufe der Prozesse kommen - den Industriekartellen den Mut nehmen könnte, weiterhin mit unserer Regierung im Rahmen der Rüstungsmaßnahmen, die im Interesse unserer zukünftigen Verteidigung getroffen werden müssen, zusammenzuarbeiten." Die I.G. Farben-Nachfolger Bayer, BASF und Aventis (vormals Hoechst) sind heute jeder für sich größer und mächtiger als das gesamte Kartell, das sie einst ins Leben riefen.

Aufgabe der I.G. Farben in Liquidation war und ist es, sich aufzulösen und das Restvermögen an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen auszuzahlen. Rund 80 Milliarden Euro wurden von Zwangsarbeitern im Dritten Reich erwirtschaftet, gerade mal 100.000 DM Ende der 50er Jahre als Entschädigung gezahlt. Als Hinderungsgrund für die Liquidation wurden bis 1989 unter anderem Ansprüche auf den I.G. Farben-Grundbesitz in Ostdeutschland herangezogen. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems führte schließlich zu Jubelszenen in der Aktionärsversammlung, nicht aber zur Auszahlung, sondern zu einem sprunghaften Anstieg der Aktien. Während die Spekulationen auf das Ostvermögen nach heftigen Protesten inzwischen durch die Rechtsprechung zurückgewiesen wurden, erhebt der Konzern weiterhin Anspruch auf Vermögenswerte in der Schweiz. Doch der wachsende Protest gegen die Liquidationsgesellschaft und die öffentliche Debatte um eine Entschädigung der ZwangsarbeiterInnen setzte die I.G. Farben i.A. in den 90er Jahren zunehmend unter Druck. Ihr Vermögen, das Anfang der 90er noch etwa 50 Milliarden Euro betragen hatte, kam deutlich in Bewegung: Neben jährlich mehreren Hunderttausend Euro, die an Liquidatoren und Aufsichtsräte ausgezahlt werden, betrieb der Konzern "schlecht laufende Immobiliengeschäfte". Nach Angaben der amtierenden Liquidatoren, dem Schweriner Rechtsanwalt Volker Pollehn und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Otto Bernhardt, liegt das Restvermögen der I.G. Farben i.A. inzwischen bei weniger als 10 Millionen Euro. In Ermangelung verbleibenden Geldes wird die Interessengemeinschaft so gegen nennenswerte Auszahlungen an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen bald umfassend abgesichert sein - selbst wenn ihre Auflösung politisch nicht länger zu verhindern ist.

Im Frieden für die Welt?

Wissenschaftliche Erkenntnis kann als Aufklärung die Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt und damit für bessere Lebensbedingungen und ein friedliches Zusammenleben aller Menschen bilden. Unter der Hegemonie von Krieg und Profitmaximierung jedoch können sich wissenschaftliche Erkenntnisse destruktiv - sogar unmittelbar menschenvernichtend - auswirken. Es gehört zur Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Ziele und Anwendungen der eigenen Wissenschaft immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dieser Blick über den Tellerrand ist kein Luxus, sondern absolut notwendig. In Bezug auf sein eigenes Fach formulierte Carl Friedrich von Weizsäcker: "Politik ist die verdammte Pflicht des Physikers im Atomzeitalter." In diesem Sinne ist der Einsatz für eine kritische Wissenschaft, umfassende Demokratisierung der Hochschulen und ein eigenständiges Studium auch als Lehre aus Faschismus und Krieg die Pflicht einer und eines Jeden.

Veröffentlicht 2003, http://www.harte--zeiten.de/artikel_50.html