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Zum Geleit XXV

Sinn und Form

oder: Literatur muß immer erlaubt sein

1) Die erzählte Welt
"Wer zu verzichten angefangen hat, ist auf Ungerechtigkeit festgelegt. Er muß dauernd neue Rechtfertigung für seinen Verzicht aus seiner Umwelt ziehen. Dahin ist die Ehrlichkeit."
Christa Wolf, "Lesen und Schreiben", 1968.

Wer nicht verzichten will, auch und gerade auf seine Mitmenschen und ihr Wohl nicht, das ein gemeinsames Wohl sein soll, der ist auf Gerechtigkeit und mehr orientiert; der will verstehen, neigt zur unbändigen Unzufriedenheit gegenüber den allemal vermeidbaren Erniedrigungen, sucht nach leitenden Gedanken, plastischen Deutungen, aufschlußreichen Figuren, mitziehenden Geschichten, anderen Möglichkeiten, Helligkeit im Trüben, eröffnenden Taten, unweigerlich Mitwirkenden - und liest... Hier ist Ehrlichkeit ein Prozeß.

2) Vom Besteigen hoher Berge
"Hans Castorps Geschichte ist die Geschichte einer Steigerung; ein simpler Held wird in der fieberhaften Hermetik des Zauberbergs zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig gemacht, von denen er sich früher nie hätte träumen lassen. Die Geschichte seiner Steigerung ist aber zugleich Steigerung auch in sich selbst, als Erzählung. Sie arbeitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romanes, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert ud transparent macht. Die Figuren sind für das Gefühl des Lesers alle mehr, als sie scheinen: lauter Exponenten, Prinzipien und Welten."
Thomas Mann, "On myself", März/April 1940.

Wer Hans Castorp mittels des "raunenden Beschwörers des Imperfekts" vor dem Ersten Weltkrieg in die kühlen Höhen der Schweiz begleitet, muß nicht krank werden, sieben Jahre Liegekur machen oder gar am Ende in den Krieg geworfen werden.
Diese schneereiche bürgerliche Weltflucht ist ein üppig-ironisches Dekadenzgemälde, ein reiches pädagogisches Erlebnis und ein breit geschildertes Plädoyer der errungenen Lebensfreundschaft sowie ein Nein zum Kriege. Lesen lohnt sich. Die Verbindung der gewonnen Einsichten zum Alltag ist sinnvoll und mitteilenswert.

3) Dialektik
"ich atme innerlich
aber die nasenlöcher
habe ich außen"

Ernst Jandl, "Letzte Gedichte", Sammlung Luchterhand 2001.

Der Mensch ist unweigerlich mit seiner Außenwelt verbunden. Diese Verbindung konstituiert seine Existenz. In der bewußten Handhabung dieser Verbindung gewinnt er seine Souveränität. Demokratie atmet.

4) Vorankommen
"Das Ross und der Stier
Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein dreuster Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: Schande! von einem Knaben ließ ich mich nicht regieren!
Aber ich, versetzte das Roß. Denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzuwerfen?"

Gotthold Ephraim Lessing, Fabeln/Erstes Buch, 1759.

Gute Reise!
(Auch beim Lesen.)

Golnar Sepehrnia, Olaf Walther,
Hamburg, den 15. September 2006

Flugblatt: ,,Die Universität”

Akademischer Senat: 21. September 2006 (Termin)

Veröffentlicht am Freitag, den 15. September 2006, http://www.harte--zeiten.de/dokument_442.html