Menü | HomePartei & Verbandweltanschauliche Grundlagen unseres Eingreifens in Partei und Verband › Beschluß der Kommission für Bildungspolitik beim Parteivorstand der SPD vom

Bildung in Freiheit, Gleichheit und Solidarität

Das sozialdemokratische Verständnis von Bildung

Inhaltsverzeichnis

I. Einführung
II. Versuch einer schulpolitischen Bilanz
II.1. Einige historische Vorbemerkungen
II.2. Zur Situation nach 1945
II.3. Reformen in den 60er Jahren
II.4. Schulpolitische Bilanz wichtiger Reformziele
II.4.1. Abbau von Ungleichheiten
II.4.2. Reform der Bildungsinhalte
II.4.3. Mitbestimmung und Mitwirkung
II.4.4. Humanisierung des Umgangs
II.5. Änderung von Schulstrukturen
II.6. Ergebnisse und Aufgaben
III. Bildung als aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderung
III.1. Herausforderung durch das Beschäftigungssystem
III.2. Steigende Nachfrage nach Bildung erfordert Offenhalten der Bildungsgänge
III.3. Angepaßte Technologien
III.4. Kampf um kulturelle Hegemonie
III.5. Demgegenüber bekräftigt die SPD:
IV. Ganzheitliche Bildung und Grundwerte
IV.1. Sozialdemokratische Grundwerte
IV.2. Menschenbild und Bildungsverständnis
IV.3. Zum Begriff der Allgemeinen Bildung
IV.3.1. Objektive Inhalte der Bildung
IV.3.1.1 Wirtschaftliche Bildung
IV.3.1.2 Politisch-soziale Bildung

Einführung

Die Kommission für Bildungspolitik beim Parteivorstand der SPD stellt mit dem nachfolgenden Text allen an Bildung und Pädagogik Interessierten ihre Überlegungen zur Weiterentwicklung unseres Bildungswesens vor.

Der hier dokumentierte Beschluß zu „Bildung in Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ ist ein Diskussionsangebot. Der Text ist offen für Veränderungen.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat sich immer einer umfassenden bildungspolitischen Orientierung verpflichtet gefühlt. Sie hat auf der Basis ihrer Grundwerte Vorstellungen entwickelt und dabei immer auch Impulse von außen aufgenommen. Die Grundlage einer solchen ganzheitlichen Auffassung von Bildung wird im Sozialisationsprozeß der Schule und der Berufsbildung gelegt. Aus diesem Grund haben wir uns im nachfolgenden Text hauptsächlich mit der Schule als der Institution beschäftigt, in der das Fundament für eine ganzheitliche Bildung der Kinder, und damit der zukünftigen Bürgerinnen und Bürger, gelegt werden soll.

Vorschläge und Überlegungen zur umfassenden Gestaltung der Hochschulen oder des Forschungsbereichs werden nicht in der gleichen Ausführlichkeit vorgelegt. Zur Weiterentwicklung dieser Bereiche sind im Irseer Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm der SPD grundlegende Ausführungen gemacht worden. Sie werden bei Zukünftigen Diskussionen mit heranzuziehen sein.

Unserer besonderer Dank für die Initiierung, kontinuierliche Begleitung und Vollendung des Textes gilt vor allem Carl-Heinz Evers und der von ihm geleiteten Arbeitsgruppe, die über drei Jahre aus unzähligen Vorlagen und Textfassungen auf der Grundlage der Diskussionen in der Kommission einen Entwurf vorgelegt hat. Dem „harten Kern“, der die Arbeit den gesamten Zeitraum geleistet hat Joachim Ebert (TU Berlin), Horst von Hassel (Schuldezernent Bremerhaven), Jürgen Herter (TU Berlin), Klaus Klemm (GHS Essen), Knut Nevermann (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin) und Hans-Günter Rolff (Universität Dortmund) - danken wir ebenfalls herzlich, ebenso all denjenigen, die uns bei einzelnen Fragen mit Anregungen und kritischen Kommentaren geholfen haben.

Inge Wettig-Danielmeyer
(Vorsitzende der Kommission für Bildungspolitik)

Manfred Dammeyer
Ludwig von Friedeburg
(Stellvertretende Vorsitzende der Kommission für Bildungspolitik)

P.S.: Weitere Exemplare und Informationen sind über das Referat Bildung und Jugend, SPD-Parteivorstand, Ollenhauerstraße 1, 5300 Bonn 1, Telefon; 0228/532362 zu erhalten.

I. Versuch einer schulpolitischen Bilanz

I.1 Einige historische Vorbemerkungen

Seit dem 19. Jahrhundert haben Sozialdemokraten das Erbe von Aufklärung und Humanismus verbunden mit den Ideen des Sozialismus und eine gemeinsame Schule für alle sowie eine umfassende Bildung für alle zu ihrem Programm gemacht. Dabei gingen und gehen Sozialdemokraten davon aus, daß eine demokratische Bildungspolitik die Voraussetzungen dafür schaffen muß, daß der Mensch als Individuum die Chance der eigenen Entfaltung erhält, daß er ein kritisches Verständnis zu sich und zur Gesellschaft findet und daß er befähigt wird zu gemeinsamem Handeln mit anderen, zur Mitmenschlichkeit und zur Solidarität, zur gesellschaftlichen Mitgestaltung.

Seit 1918 haben Sozialdemokraten viel erreicht: Sie haben eine gemeinsame vierjährige Grundschule an die Stelle der ständischen Vorschulen gesetzt.

I.2. Zur Situation nach 1945

Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus erschien der grundsätzliche Neubeginn zwingend. Doch nur in wenigen Ländern - Berlin, Bremen, Hamburg - gelang der aktiven Einflußnahme der SPD, die gemeinsame Schulzeit für alle Kinder über die vierjährige Grundschule der Weimarer Zeit hinaus zu verlängern. Lerninhalte wurden zum Teil erneuert, Bildungszugangschancen wurden verbessert, Lehrer-, Eltern- und Schülermitbestimmung ermöglicht.

Es dauerte aber nicht lange, bis in der Bundesrepublik an alte gesellschaftliche Verhältnisse angeknüpft wurde, als wäre der Nationalsozialismus nur ein bedauerlicher Betriebsunfall gewesen. Der Mangel an qualifizierten und demokratischen Lehrern sowie fehlende Räume, Lehr- und Lernmittel trugen dazu bei, daß es der wiedererstarkenden politischen Rechten nicht schwerfiel, schulische Mangel gerade in den Ländern, die gründlich mit der Vergangenheit brechen wollten, der demokratischen Schulreform anzulasten. Doch konnten Berlin (West), Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen wenigstens Teile ihrer Schulreformen über jene Restaurationsphase hinwegretten.

Einbußen bei Wahlen - z.B. in Hamburg 1953 -wurden in der innerparteilichen Diskussion teilweise der Schulreform angelastet, auch wenn andere Politikfelder entscheidender waren.
Die Schulreformen in der sowjetisch-besetzten Zone Deutschlands/Deutschen Demokratischen Republik wurden während des Kalten Krieges von der politischen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) dafür in Anspruch genommen, auch kleine demokratische Reformschritte hier als kommunistisch zu diffamieren.

Eine Änderung dieser Situation reifte erst heran, als ein Rückstand der gesellschaftlichen Verhältnisse an Modernität offenkundig zu werden begann. Es entstanden Befürchtungen, daß mit den bisherigen Konzepten die Zukunft nicht bewältigt werden könnte. Der ‚Sputnik-Schock', den der erste Start eines künstlichen Satelliten durch die Sowjetunion 1957 besonders in den USA ausgelöst hatte, spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Einsicht, daß die Bundesrepublik Deutschland im Ausbaugrad und in der Ergiebigkeit ihres Bildungswesens am Ende der Tabelle vergleichbarer Industriestaaten stand. Weil die OECD einen Zusammenhang zwischen Ausbaugrad des Bildungswesens und wirtschaftlichem Wachstum ausmachte, geriet - wegen der offenbar gefährdeten Konkurrenzfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft - das Bildungswesen zunehmend in die Kritik. Verstärkt wurde diese Sorge durch das Ausbleiben des Zustroms qualifizierter Fachkräfte aus der DDR nach dem 13. August 1961.

Bereits in den Anfängen dieser Entwicklung hatte die SPD das Problem des „Modernitätsrückstandes“ aufgegriffen. Auf ihren Bundesparteitagen in Berlin 1954, München 1956 und Stuttgart 1958 befaßte sie sich gründlich mit wirtschaftlich-technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Nach dem Aufruf „Die Zukunft meistern“ von 1958 legte Waldemar von Knoeringen, damals Stellvertretender Vorsitzender der SPD, im Auftrage des Parteivorstandes Anfang 1959, also noch vor der Annahme des Godesberger Grundsatzprogramms, den „Plan Z - Die Zukunft meistern“ vor. Hier geht es um die Mobilisierung der geistigen Kräfte unseres Volkes und entsprechende Reformen in der Gesellschaft und besonders im Bildungswesen.

Der Rückstand an Modernität wurde zum beherrschenden innenpolitischen Thema der 60er Jahre. Er war auch im Bildungswesen besonders deutlich. Wenige Beispiele mögen das verdeutlichen:

 In vergleichbaren Industrieländern Nord- und Westeuropas
— gehen mehr Jugendliche länger zur Schule als in der Bundesrepublik;
— haben die Kinder eine längere gemeinsame Grundschulzeit als vier Jahre;
— erreichen mehr Jugendliche qualifizierte Schulabschlüsse;
— sind die Lerngruppen erheblich kleiner, auf einen Lehrer kommen viel weniger Schüler.

 In der Bundesrepublik ist ein statischer Begabungsbegriff vorherrschend, der Begabung als unbeeinflußbare Naturkonstante auffaßt. Dem entspricht dann die Ideologie von den sogenannten praktischen, theoretischen und praktisch-theoretischen Begabungen, für die dann Hauptschule, Gymnasium bzw. Realschule zuständig seien. Demgegenüber wird in den meisten anderen vergleichbaren Ländern Begabung vor allem als Aufforderung verstanden, Kinder und Jugendliche zu begaben und zu fördern, weil eben ihre potentiellen Fähigkeiten weder ausschließlich noch überwiegend durch Vererbung festgelegt sind.

 Die Unterrichtsinhalte sind weitgehend veraltet und haben keinen Bezug zu Gegenwart und Zukunft. Westdeutsche Fibeln und Lesebücher werden mit ihrer verniedlichenden Wirklichkeitsferne zum Gespött von Kritikern im In- und Ausland.

 In den Volksschulen - vielfach konfessionell getrennt, ohne Fachunterrichtsräume und außerhalb der Städte meist wenig gegliedert - wird an einer ‚volkstümlichen Bildung' festgehalten, die neben Schreiben. Lesen, Rechnen, Religion, Singen und Zeichnen allenfalls einfachste naturkundliche Informationen vorsieht, nicht aber naturwissenschaftliche, ökonomische und politische Elementarkenntnisse und Zusammenhänge.

 In den Gymnasien, die Bildung verheißen, ist die klassische Bildungsidee des Humanismus degeneriert. Die gesellschaftlich-politischen und personal-emanzipatorischen Momente des Bildungsbegriffes der Aufklärung - nach Kant ,die Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit‘ - sind längst ausgeschieden und durch ein vermeintlich unpolitisches und privates Verständnis von Bildung ersetzt worden. Mit Hilfe dieses erstarrten Kanonwissens treiben die meisten Gymnasien rigide Auslese. Und oft gelangt nur ein Drittel der Gymnasialanfänger zum Abitur. Auch die Realschulen entlasten sich durch Aussortieren von Schülern zu Lasten der Volksschuloberstufe (Hauptschule).

 Berufsschulen bemühen sich an einem Tag der Woche in zu großen Lerngruppen und mit zu wenigen Lehrern in zu wenigen Unterrichtsstunden, jenes systematische Fachwissen zu vermitteln, das an den meisten betrieblichen Ausbildungsplätzen vorenthalten wird.

Die Realität des Modernitätsrückstandes war so offenkundig, daß sich Verteidiger der aktuellen Zustände nicht mehr verständlich machen konnten.

I.3 Reformen in den 60er Jahren

Die SPD hatte jene Modernitätserfordernisse nicht nur erkannt, publiziert und öffentlich angeprangert. Sie arbeitete zugleich an ihrer Überwindung. Auch hierzu einige Beispiele:

 Hessen und Niedersachsen - beide sozialdemokratisch regiert - treiben die Landschulreform voran: die Errichtung von Dörfergemeinschafts- oder Mittelpunktschulen, in denen qualifizierter Unterricht in Jahrgangsklassen möglich wird und Fachräume bereitstehen.

 Niedersachsen erprobt den Differenzierenden Mittelbau (für die 5. bis 8. .Jahrgangsstufe als Verlängerung der für alle Kinder gemeinsamen Schulzeit. - In Berlin (West) verteidigen Sozialdemokraten und Gewerkschaften die sechsjährige Grundschule gegen reaktionäre Absichten. Hier wird seit 1955 auch das 10. Schuljahr an Hauptschulen erprobt.

 Die sozialdemokratisch geführten Stadtstaaten Bremen und Hamburg verbessern besonders ihre beruflichen Schulen. Niedersachsen geht mit dem Ausbau des Zweiten Bildungsweges voran.

 Sozialdemokratische Bildungspolitiker unterstützen die Grundgedanken des „Rahmenplans zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden Öffentlichen Schulwesens“,. den der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen - ein von. Bund und Ländern eingesetztes Gremium - 1959 vorlegt.
Und sozialdemokratische Kultusminister betrieben - auch als Teilantwort auf den Rahmenplan eine erste Reform der gymnasialen Oberstufe, die 1961 zur Saarbrücker Rahmenvereinbarung führt: Einerseits soll Stoffhuberei durch Konzentration und Vertiefung ersetzt werden. Andererseits soll insbesondere durch das fachübergreifende Bildungsfeld Gemeinschaftskunde ein größerer politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeitsbezug hergestellt werden.

Die SPD verstand es zunehmend, ihre Kompetenz für eine humane Gestaltung der Zukunft zu verdeutlichen. Das geschah Anfang der 60er Jahre besonders im Kongreß „Deutsche Gemeinschaftsaufgaben“ in Berlin 1962 mit den Schwerpunkten Bildung, Volksgesundheit, Alte Menschen, Städtebau sowie auf dem Deutschlandtreffen „Aufstieg und Bildung“ 1963 in Hamburg.

Sozialdemokratische Forderungen, Begründungen und reale Reformschritte hatten im Bereich der Bildungspolitik den Boden vorbereitet, so daß Georg Pichts Streitschrift „Die deutsche Bildungskatastrophe“ von 1963/64 eine erstaunliche öffentliche Resonanz fand und den Reformbemühungen zusätzliche Schubkraft gab. Pichts Rettungsrezept war einfach und einleuchtend:

Um die internationale Konkurrenzfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft zu erhalten und zu verbessern, werden bis 1970 ein paar Hunderttausend zusätzlicher Lehrer gebraucht; deshalb muß die Abiturientenzahl verdoppelt werden, auch auf dem Zweiten Bildungsweg.

In dieser Situation befaßten sich die Kultusminister der Länder im März 1964 mit der europäischen Schulentwicklung. Diese sei durch folgende Tendenzen gekennzeichnet:

 „Anhebung des gesamten Ausbildungsniveaus der Jugendlichen durch vermehrte und verbes­serte Schulbildung aller Art,
 Erhöhung der Zahl der zu gehobenen Abschlüs­sen verschiedenster Art geführten Jugendlicher,
 Ausbildung jedes einzelnen bis zum höchsten Maß seiner Leistungsfähigkeit,
 Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten, die stärker auf die Befähigung des einzelnen eingestellt sind; Maßnahmen, die Schüler in diese ihnen gemäßen Bildungsgänge zu bringen (z.B. Beobachtungsstufen);
 Verstärkung der Durchlässigkeit unter allen bestehenden Schulen (z.B. horizontal, nicht vertikal gegliederte Schulorganisation),
 Errichtung neuer weiterführender Formen.“

Und dann heißt es in dieser Berliner Erklärung der Kultusministerkonferenz vom März 1964:

„Die Kultusminister und -senatoren stellen fest, daß die deutsche Kulturpolitik nach Abschluß der Periode des Wiederaufbaus nunmehr in einen Zeitabschnitt eingetreten ist, in welchem die zunehmende europäische Integration und die in allen Staaten gleichlaufenden Bedürfnisse der modernen Industriegesellschaft verstärkt neue Impulse zur Weiterentwicklung der Schul- und Hochschulpolitik geben...“

Aufgrund der öffentlichen Erwartungen wurden Reformen nun auch in solchen Bundesländern in Gang gesetzt, die sich bisher sträubten, zum Beispiel:

 Das 9. Pflichtschuljahr an Volks- oder Haupt- und -Sonderschulen wird nun auch in den - meist unionsregierten - Bundesländern eingeführt, die es noch nicht hatten, zuletzt in Bayern.

 Auch in den seinerzeit CDU- oder CSU-regierten Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im Saarland wird die Landschulreform in Gang gesetzt.
In diesen Ländern bedeutet damals Volksschule zugleich meist Konfessionsschule. Nun fallen zugleich mit den wenig gegliederten Dorfschulen euch meist die Konfessionsschulen. Wer das heute als Verlust für die dörfliche Kultur beklagt, der übersieht, wie seinerzeit die Landschulreform besonders als Befreiung von Indoktrination, gängelnder Bevormundung und muffiger Kontrolle empfunden wurde.

Während sich unionsregierte Bundesländer anschickten, einige Teilreformen des Schulwesens nachzuholen, ging die SPD programmatisch weiter. Mitte 1964 wurden die bildungspolitischen Leitsätze beschlossen. Diese inbesondere schulpolitische Orientierung bildeten zusammen mit der Berliner Erklärung der Kultusminister vom März 1964 die Inhalte einer bildungspolitischen Offensive der SPD.

Die Gründung des Deutschen Bildungsrates. und die Bildung der großen KoalitIon 1966 verschafften den Unionsparteien eine gewisse bildungspolitische Atempause. Dennoch war die SPD bestrebt, in der Schulpolitik weiterzugehen, beispielsweise

 in verstärkten Versuchen mit der Förderstufe für das 5. und 6. Schuljahr in Hessen,
 in der Errichtung von Aufbaustufen in mehreren Ländern, in denen befähigte Realschulabsolventen zum Abitur geführt werden;
 im verstärkten Ausbau des Zweiten Bildungsweges durch Gründung zahlreicher Kollegs;
 durch Vorbereitung und Gründung von Gesamtschulen und Ganztagsschulen, wobei sozialdemokratische Städte häufig initiativ sind, auch in unionsregierten Ländern;
 durch Neubearbeitung von Richtlinien für Unterricht und Erziehung und Erprobung neuer Unterrichtsfächer wie Arbeitslehre oder Unterrichtsverfahren wie Projektunterricht.

Die Proteste der Studenten. oft unterstützt von Lehrlingen, Schülern und zum Teil von Eltern, gaben der Reformbewegung neue Anstöße.

In der SPD verdichtete sich die Reformdiskussion in den Konzepten der Förderstufe, der Gesamtschule, der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung sowie der Gesamthochschule. Das waren nicht nur Strukturmodelle; auch Inhalte und Methoden sollten erneuert werden. Lehrer, Schüler und Eltern sollten in Schulen mitbestimmen und der pädagogische Umgang soll humanisiert werden. Konzentriert waren diese Vorstellungen im „Modell für ein demokratisches Bildungswesen“, das die SPD Anfang 1969 vorlegte.

Diese Konzeption fand dann für den Schulbereich weitgehend ihren Niederschlag im Strukturplan der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1970, im Bildungsbericht ,70 der sozialliberalen Bundesregierung, die die Bildungspolitik an der Spitze der inneren Reformen sehen wollte, sowie in den Mehrheitsvoten der Bundesregierung und der sozialdemokratisch geführten Bundesländer zum Bildungsgesamtplan 1973.

I.4 Schulpolitische Bilanz wichtiger Reformziele

SPD-Modell, Strukturplan, Bildungsbericht und BiIdungsgesamtplan waren inhaltlich zwar nicht identisch, aber von gleichen Intentionen getragen. Das zeigte sich besonders:
 am Abbau von Ungleichheiten,
 an der Reform der Bildungsinhalte,
 an Mitbestimmung und Mitwirkung und
 an der Humanisierung des Umgangs.

Hier Ergebnisse zu bilanzieren ist politisch auch deshalb interessant, weil die CDU/CSU-Kultusminister in der Regierungskommission des Bildungsrates dem Strukturplan keinen generellen oder ernsthaften Widerstand entgegensetzten, sondern allenfalls Details kritisierten.

I.4.1 Abbau von Ungleichheiten

Die SPD zielte in ihrer Politik der Verbesserung der Chancengleichheit besonders auf vier Gruppen, bei denen besondere Defizite in der Bildungsbeteiligung nachgewiesen waren: Mädchen, Arbeiterkinder, Landbewohner, Katholiken.

Eine Illustrierte erfand entsprechend Mitte der 60er Jahre als konzentrierte Adressatin der Schulreform „die katholische Arbeitertochter vom Lande“. Was ist aus ihr geworden?

 Konfessionell bedingte Unterschiede in der BiIdungsbeteiligung sind inzwischen bedeutungslos geworden. Das mag - neben der Verbesserung des schulischen Angebots - auch dadurch begünstigt sein, daß bedeutende Teile beider christlicher Kirchen keinen Widerspruch mehr sehen zwischen Christsein einerseits und den Werten der philosophischen Aufklärung und dem Humanismus der Arbeiterbewegung andererseits.

 Mädchen haben an allgemeinbildenden Schulen in der Bildungsbeteiligung mit den Jungen mindestens gleichgezogen, - ja, Mädchen aus allen sozialen Schichten besuchen sogar etwas häufiger Realschulen und Gymnasien als Jungen gleicher sozialer Herkunft. Jedoch kehrt sich dieser Erfolg dann um: Frauen finden seltener als Männer qualifizierte Ausbildungsberufe, verzichten häufiger auf ein Studium oder studieren in Studiengängen, die derzeit auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben.
Das Gleichziehen der Mädchen in der quantitativen Bildungsbeteiligung verdeckt leicht fortbestehende geschlechtsspezifische Verhaltensweisen: Jungen sind im Wahlpflichtbereich häufiger in mathematischen. naturwissenschaftlichen und technischen Fächern anzutreffen. Mädchen mehr in sprachlichen, musischen und sozialen Fächern.

 Regionale. Unterschiede in der Bildungsbeteiligung sind in den letzten zwanzig Jahren geringer geworden. Zum Teil bestehen jedoch Unterschiede fort. Das gilt einmal für die Ungleichheiten zwischen den Ländern. So liegen z.B. die Hauptschulquoten bei Siebtkläßlern in Rheinland-Pfalz, Bayern und dem Saarland am höchsten und - neben den Stadtstaaten - in Hessen am niedrigsten.

Innerhalb der einzelnen Bundesländer lassen sich wiederum - zum Teil noch bedeutsamere - regionale Unterschiede beobachten, die traditionell als Stadt-/Land-Unterschiede und als Unterschiede in der Versorgung mit Bildungsangeboten begriffen werden. Eine Analyse aktueller Daten zu derart regional bedingten Ungleichheiten führt zu der Einschätzung, daß die „klassischen“ Stadt-/Land-Unterschiede verschwunden sind bzw. im Verschwinden begriffen sind: So kann man für Nordrhein-Westfalen zeigen, daß der Besuch von Realschulen und Gymnasien im 7. Schuljahrgang 1983/84 in den Landkreisen sogar leicht höher als in den Großstädten lag. Noch bis 1975/76 war dies deutlich umgekehrt. Damals lag der Besuch von Realschulen und Gymnasien in denselben Landkreisen über 5 Prozentpunkte unter dem in denselben Großstädten.

Andererseits erweist sich dabei deutlich, welche Vorteile die Gesamtschule gerade für ländliche Gebiete hat, wenn es sie dort nur gäbe. Es mehren sich derzeit gerade in ländlichen Gebieten wegen des Schülerrückgangs Überlegungen und Nachfragen von Gemeinden, ob nicht die Errichtung einer Gesamtschule zweckmäßig sei, weil sie ein umfassendes Angebot ortsnah bereithält. Auch Gemeinderäte mit CDU-Mehrheit stellen zum Entsetzen mancher Parteiideologen solche Uberlegungen an und schöpfen Hoffnung, wenn - wie im Saartand infolge des Regierungswechsels 1985 - ihre Pläne Aussicht auf Verwirklichung haben.

 Soziale Unterschiede in der Bildungsbeteiligung blieben weitgehend bestehen: Nur jedes zehnte Arbeiterkind besuchte z.B. 1982 ein Gymnasium, jedoch jedes zweite Beamtenkind. Deutlich verbessert hat sich der Realschulbesuch von Arbeiterkindern: jedes vierte besucht diese Schulart.

Der Sachverhalt des geringen Gymnasialbesuchs von Arbeiterkindern verbessert sich kaum, wenn die Jugendlichen berücksichtigt werden, die nach einem mittleren Bildungsabschluß an Realschulen oder an berufsbildenden Schulen in die gymnasiale Oberstufe einsteigen: Maximal 3,6 Prozent konnten (1982) als solche ‚Seiteneinsteinger' ausgemacht werden. - Entsprechend ist die Situation bei den Studienanfängern: Im Herbst 1982 nahmen nur 7,5 Prozent aller gleichaltrigen Arbeiterkinder ein Studium an Fachhochschulen oder Universitäten auf, an Universitäten allein sogar nur 4,2 Prozent. Jedoch besuchte jedes zweite Beamtenkind eine Universität.

Ganz anders ist die Situation an Gesamtschulen: Hier befinden sich durchgängig auf einem dem Gymnasium entsprechenden Niveau zwei- bis dreimal so viele Arbeiterkinder wie am Gymnasium. Das gilt ebenso für die erreichten Abschlußqualifikationen, auch für das Abitur, und unabhängig davon, ob die Gesamtschulen ganztags oder halbtags arbeiten.

Selbst die durch die KMK-Vereinbarung von 1982 eingeengten Gesamtschulen fördern also Arbeiterkinder besser, auch wenn sie Ungleichheit nicht abbauen, wohl aber mildern.

Ein Problem in diesem Zusammenhang gab es zum Beginn der Schulreform noch nicht: das der ausländischen Kinder und Jugendlichen. Ihre Schulkarriere ist heute so zu charakterisieren: Sie besuchen in der Regel keinen Kindergarten, nach Abschluß der Grundschule gehen die meisten Kinder in die Hauptschule (nur 8 Prozent türkische Jugendliche gehen auf Realschule oder Gymnasium); nur etwa die Hälfte besucht eine Berufsschule, und von diesen Jugendlichen erlernen nur wenige einen Beruf.

Insgesamt kann festgestellt werden: im herkömmlichen dreigliedrigen Schulwesen sind Arbeiterkinder weiterhin benachteiligt. Nur die Gesamtschule hilft dieser Gruppe deutlich.

I.4.2 Reform der Bildungsinhalte

Nach Auffassung der SPD sollen bei der Erneuerung der Bildungsinhalte nicht nur die Lehrpläne ‚entrümpelt' und modernisiert werden. Weil die Demokratie wissende und mündige Bürger braucht, soll allen mehr Bildung und bessere Bildung ermöglicht werden. Inhalte sollen Orientierungen und Hilfen für die humane Bewältigung der Gegenwart und der Zukunft geben, Kreativität soll gefördert werden. ‚Wissenschaftlichkeit' des Unterrichts steht in der Geschichte der Arbeiterbewegung als Alternative zu Indoktrination. Kanon- und Paukwissen und ‚volkstümlicher' Bildung. Alle Jugendlichen sollten Tatsachen und Zusammenhänge, Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten in Gesellschaft und Natur erlernen. Wilhelm Liebknechts Satz ist bewußt, daß Wissen Macht und daß Macht Wissen ist. Entsprechend versteht die Arbeiterbewegung die Wissenschaft niemals als absolut und grenzenlos, sondern stets an Humanität und Verantwortlichkeit in Hinblick auf soziale Folgen gebunden.

Die Wissenschaftsorientierung ist ein Erfolg der Schulreform. Sie diente auch der Abschaffung der Trennung in Elite- und Volksbildung. Kritik an Fehlentwicklungen. wie z.B. einer nur kognitiven Vermittlung fachwissenschaftlich zwar legitimierter, aber weitgehend unbegriffener Fakten oder auch einer ‚Blockade von Alltagserfahrungen' ist berechtigt und notwendig. Die Kritik muß sich jedoch zugleich gegen Inanspruchnahme durch die Reaktion absichern, die ein Zerrbild der Wissenschaftsorientierung des Unterricht zur Wiederbelebung undemokratischer Elitevorstellungen benutzt. - Auch Kritik an der Verkürzung und Verfälschung des Prinzips der Wissenschaftsorientierung, bei der sich. Wissenschaft allein als Ansammlung technologisch verwertbarer Kenntnisse begreift, ist notwendig. Aber gesellschaftliche Gefährdungen durch Naturwissenschatt und Technik, besonders auch durch die Gefahr des atomaren oder ökologischen Untergangs, können wiederum nur mit Hilfe kritischer Wissenschaft analysiert werden.

Unmittelbarkeit, Spontaneität, Sinnlichkeit im Unterricht sind zudem keine Widersprüche zu einer kritischen Wissenschaftsorientierung des Unterrichts. Die SPD hat sich stets gegen eine kognitive Einseitigkeit ausgesprochen. Das mag hier an einem Beispiel aus der politischen Bildung deutlich werden: Jugendliche sollen lernen, Konflikte vernünftig, fair, gewaltfrei auszutragen. Dieser Ansatz der Friedensfähigkeit wurde von den Rechtskräften, denen die ganze Richtung nicht paßte, dann seit den 70er Jahren als ‚Konfliktpädagogik' diffamiert.

Es ist auch ein Erfolg der Schulreform, daß die Inhalte des Unterrichts modernisiert wurden. Doch in der Inhaltsreform (Curriculumrevision) hat es zweifellos Fehlentwicklungen gegeben: Fakten als bloß weiterzureichende Wissensbestände, starke Formalisierungen und Festlegungen in ‚klassifizierten und hierarchischen Lernzielkatalogen', ‚Operationalisieren' der Feinlernziele für jede Unterrichtsstunde, Hineinzwängen der Überprüfung des Lernerfolges in das gleiche starre System. Eine solche Zerstückelung des Unterrichts erlaubt zudem keine Selbststeuerung, keine produktiven Umwege, keine kreativen Abweichungen. Motivationen werden abgetötet, und der Streß verschafft sich nicht selten Luft im ‚Wegbleiben und Kaputtmachen'.

Auch in diesem Zusammenhang wird hingewiesen auf die Aussagen der Sozialdemokraten zur ‚menschlichen Schule' von 1979.

I.4.3 Mitbestimmung und Mitwirkung

Die Sozialdemokraten verstehen Mitbestimmung als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip für alle Bereiche, nicht nur am Arbeitsplatz, im Betrieb und im Unternehmen. Auch im Wohnbereich als Mieter, im Ortsteil und in gesellschaftlichen Institutionen soll es eine ständige und folgenhafte Mitbestimmung der Beteiligten geben.

Entsprechend muß die Schule zur Mitbestimmung befähigen. Das geschieht am besten und tragfähigsten dadurch, daß die Einzelschule selbst die an ihr Beteiligten mitbestimmen und mitverantworten läßt.

Die Bildungskommission des deutschen Bildungsrates empfahl 1973 eine ‚Verselbständigung der Schulen und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern' in ihrer Schule als Element einer lebendigen gesellschaftlichen Demokratie.

Verselbständigung und Mitbestimmung setzen - so auch die Bildungskommission und der Schulgesetzentwurf des Deutschen Juristentages von 1980 - einen Rahmen voraus, innerhalb dessen an der Einzelschule entschieden wird. Die Festsetzung dieses Rahmens ist Aufgabe der Parlamente und Regierungen, weil Schule kein politikfreier Raum ist und weil grundsätzliche Festlegungen über die Verweildauer von Schülern, Eltern und auch etlicher Lehrer an der Einzelschule hinausreichen.

In der Vergangenheit sind, begünstigt zuweilen sogar durch gesetzliche Regelungen, die beiden Ebenen
 Festsetzung des Rahmens durch Parlament und Regierung und
 innerhalb dieses Rahmens Mitbestimmung und Mitverantwortung der Lehrer, Schüler und Eltern in der Einzelschule
häufig vermischt worden. Das hat zum Teil fatale Folgen. Denn je mehr zum Beispiel einflußreiche Gruppen ihre Interessen durch Einfluß auf Gesetzgebung und ministerielle Vorschrift durchsetzen konnten, desto enger wurde der Rahmen für die Mitbestimmung in der Einzelschule.

Die Bereitschaft zum Mitbestimmen, Mitwirken und Mitverantworten von Lehrern, Schülern und Eltern an der Einzelschule wird um so größer und motivierter sein, je weiter der Rahmen ist und je gewichtiger die Inhalte sind, über die zu entscheiden ist.

Im gleichen Feld der Mitbestimmung scheiterte der Deutsche Bildungsrat 1975; denn gerade seine Empfehlungen zur Partizipation von 1973 wurden zum Anlaß seiner Abschaffung genommen.

Teilweise ist sogar das Gegenteil einer gewissen Dispositionsmöglichkeit der Schulen eingetreten. Die Schulen werden nicht selten mit einem engmaschigen Netz von Vorschriften überzogen. Oft wurden Aufsicht und Kontrolle intensiviert und verschärft. Beispielsweise von der Forderung des Deutschen Lehrervereins von 1919: „Die mehrklassige Schule leitet und verwaltet der Lehrkörper unter dem Vorsitz eines von ihm auf Zeit gewählten Schulleiters (Obmannes)“ sind wir heute sehr weit entfernt.

Es gilt im Bereich der Mitbestimmung, die Empfehlung der Bildungskommission und die Vorschläge des Deutschen Juristentages erneut aufzugreifen. Neu ihre Verwirklichung zu einer Mobilisierung der Demokratie an dem Ort führen. an dem Unterricht und Erziehung stattfinden. Lehrer, die nur Befehlsempfänger sind, können keine Demokraten erziehen.

I.4.4 Humanisierung des Umgangs

Bei diesem Reformziel geht es vor allem um das pädagogische Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern.

Um die personelle Identität und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung bei Heranwachsenden zu fördern, bedarf es anderer Umgangsformen als bei der Abrichtung von Untertanen durch Brechen ihres Willens. Schule soll also nicht bitter schmecken, weil sie sonst nichts nutze, sondern soll auch Spaß machen. ‚Förderung statt Auslese' ist eine bekannte. Reformparole. Denn die Demokratie braucht selbstbewußte und mündige, gebildete und solidarische Bürgerinnen und Bürger.

Motiviertes Lernen bedeutet auch leichteres Lernen und besseres Behalten. Pädagogische Entscheidungen sollen durchschaubar sein und begründet werden. Schülerbeurteilungen sollen motivieren, ermutigen, korrigieren. Lehrer sollen neben der Vermittlung von Tatsachen, Zusammenhängen und Ursachen in Gesellschaft und Natur auch Position beziehen, ohne ihre Auffassung den Schülern direkt oder mittelbar aufzwingen zu wollen.

Leistungsforderungen sind unabdingbar; jedoch muß der Sinn eingesehen werden können. Leistung ist nach sozialdemokratischer Auffassung nicht wertfrei und wertneutral. Die humane Komponente ist der fachlichen vorgeordnet. Denn der humane Sinn und ihr humaner Zweck sind entscheidend für die Bildung. Wer Leistung fordert, muß sagen, was er damit meint.

Neben der Sozialpflichtigkeit der Leistung sind mitmenschliche Hilfe und Solidarität wichtige soziale Lernziele der Schule. Auf dem Hintergrund der historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung .mit Schulen und Lehrern im Obrigkeitsstaat lehnen Sozialdemokraten autoritäre Lehrer ab, die nur Gehorsam, Anpassung und Einzelleistung erzwingen und so Duckmäuser, Untertanen und Egoisten ‚produzieren'. Andererseits aber lehnen wir auch Lehrer ab, die alles der Beliebigkeit überlassen, keine begründeten Anforderungen stellen und keine Orientierung anbieten.

Das alles ist gemeint, wenn wir von Humanisierung des Umgangs in den Schulen sprechen.

Weit mehr als die Hälfte der jetzt an unseren Schulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer sind nach 1968 in den Schuldienst eingetreten. Sie haben in ihrer Ausbildung über die Fachstudien hinaus meist eine bessere pädagogische, psychologische und gesellschaftliche Berufspraxisorientierung erfahren als viele Lehrer vor der Reformphase. Es gibt heute in allen Schularten und -stufen sehr viele Lehrerinnen und Lehrer, die fähig sind. Tatsachen und Zusammenhänge. Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten in Gesellschaft und Natur zu vermitteln; die Kreativität zu pflegen und die zu motivieren vermögen; die sich personalen Grundproblemen der Jugendlichen stellen können und die Zusammenarbeit und Solidarität fördern möchten.

Kommen die Pädagogen mit diesen Qualifikationen zum Zuge? Werden sie durch Schulleitungen, Schulaufsicht, Eltern, Politiker ermuntert, eine Erziehung wissender, mündiger und. solidarischer Menschen zu leisten?

Offenbar gibt es in den Schulen heute viel weniger autoritäre Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern als vor 20 Jahren, - viel weniger offene Unterdrückung, viel mehr Diskursversuche. Der Umgang ist ‚moderner' geworden.

Jedoch gibt es gleichzeitig eine tiefe Motivationskrise in den Schulen, nachdem das Unvermögen der Gesellschaft offenbar geworden ist, die gesellschaftlich. notwendige Arbeit auf alle zu verteilen, die arbeiten wollen und können.

Angesichts dieser Situation gibt es ein breites Verhaltensspektrum der Schüler:

 Einerseits ein individualistisches Streben nach Punkten, oft unabhängig von Inhalten, und nach möglichst hohen Schulabschlüssen, um einen der relativ wenigen perspektivenreichen Ausbildungs- oder Studienplätze zu erreichen. Weil dabei nicht selten jeder als des anderen Konkurrent empfunden wird, bleiben oft Mitmenschlichkeit und Solidarität auf der Strecke. Nicht wenige Jugendliche lernen so, die Ellbogen zu benutzen, und je erfolgreicher sie das im Hinblick auf ihre egoistischen Ziele tun, desto mehr fühlen sie sich zur ‚Elite' gehörig.

 Andererseits die Resignation; denn der erhoffte Ausbildungs- oder Studienplatz ist oft unerreichbar - real, nicht weil es Jugendlichen eingeredet wird. Etliche Ausbildungs- oder Studienplätze sind zudem ‚Parkplätze' statt oder vor der Arbeitslosigkeit. Eine Aufforderung der Schule, fleißig zu lernen, wird dann oft als Spott und Hohn empfunden. Und die mildeste Reaktion von Jugendlichen ist, daß sie still werden.

Nicht selten sind Kinder und Jugendliche starkem Druck der Eltern ausgesetzt, um sie zu aussichtsreichen Schulabschlüssen zu treiben. Kinderärzte wissen zu berichten, welche Folgen das Verabreichen von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln hat. Ehrgeiz mancher Eltern und mangelnde Zuwendung treiben nicht wenige Jugendliche zu Drogen, beginnend oft mit dem Alkohol. Jedenfalls ist das Reformziel der Humanisierung des Umgangs in den Schulen durch gesellschaftliche Bedingungen stark beeinträchtigt.

So ist die Zahl der Schüler/innen in einer Lerngruppe in den letzten 20 Jahren erheblich kleiner geworden.

Wird diese günstige pädagogische Situation genutzt, um besser zu fördern, oder nur ‚Zugriff' oder Überwachung verstärkt?

Viele Lehrerinnen und Lehrer sind bemüht, den pädagogischen Umgang zu humanisieren, nicht selten in Konflikten mit Vorgesetzten, Eltern oder Kollegen.

Aber nicht nur Ausbildungs- und Studienplatzprobleme, drohende Arbeitslosigkeit oder die Perspektive eines ‚miesen Jobs' beeinträchtigen die Lernmotivationen von Jugendlichen, sondern auch die Angst vor der ökologischen oder atomaren Katastrophe.

Viele Pädagogen thematisieren die Angst vor der Arbeitslosigkeit und Umwelt- oder Atomtod im Unterricht; denn sie werden von Kindern und Jugendlichen gefragt, weil die Ängste real sind und nicht suggeriert werden. Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer stellen sich diesen Problemen. Sie tun es, obwohl der sogenannte Extremistenbeschluß von 1972, den auch Sozialdemokraten beschlossen und einige Jahre lang ausführten, Hunderte von Lehrern/innen getroffen und viele Tausende eingeschüchtert hat - gerade solche, die zur Reform bereit und fähig waren.

Alle drei Bereiche - Arbeit, Frieden, Umwelt - sind politisch sehr sensibel. So sind manche Lehrer und Lehrerinnen, die solche Probleme pädagogisch verantwortlich thematisieren, denunziert und dann auch zuweilen diszipliniert worden. Sozialdemokratische Kultusminister und Kommunalbeamte, Fraktionen und Ortsvereine sollten sich deshalb schützend vor demokratisch engagierte Lehrer stellen und so dazu beitragen, daß die Einschüchterung einem neuen Engagement für die Reform weicht. Die Aussagen der sozialdemokratischen Kultusminister zur Friedenserziehung von 1984 sind deshalb von unschätzbarem Wert, auch für viele Lehrer in unionsregierten Bundesländern.
Nicht selten gibt es - angeregt durch die Schule oder auch im Widerspruch zu ihr - ein starkes Engagement von Schülern und Lehrern in den sozialen Bewegungen, besonders in der Friedens- und Ökologiebewegung; diese Arbeit gibt ihrem Leben Sinn und wirkt in die Schule zurück.

Zusätzliche Probleme für eine Humanisierung des Umgangs in den Schulen ergeben sich dadurch, daß durch die gegenwärtig äußerst geringe Zahl von Lehrerneueinstellungen Lernprozesse zwischen den Generationen sehr erschwert werden. Angesichts der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher und einer offensichtlichen Zunahme zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit kommt der Schulsozialarbeit weiterhin besondere Bedeutung zu.

I.5 Änderung von Schulstrukturen

Den eben bilanzierten Zielen sollte auch die Änderung der Schulstrukturen dienen. Diese Ziele der SPD sind durch folgende Stichworte gekennzeichnet:

 Verschiebung des Überganges von der Grundschule zu weiterführenden Schulen durch Zwischenschaltung einer zweijährigen Förder- oder Orientierungsstufe für die 5. und 6. Jahrgangsstufe;

 Gesamtschule statt Hauptschule, Realschule und Gymnasium für die 5./7. bis 10. Jahrgangsstufe;

 Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung für die 16- bis 18- oder 19jährigen in der Sekundarstufe II, wie z.B. durch die Kollegschule in Nordrhein-Westfalen.

In einer Versuchsperiode sollte entwickelt werden, wie Förderstufe, Gesamtschule und integrierte Oberstufe ihre demokratischen Ziele am besten verwirklichen können. Es ging nicht um das ‚Ob'.

Gleichzeitig sollten die herkömmlichen Schularten oberhalb der Grundschule inhaltlich und in den Zielen angenähert werden, also Hauptschule, Realschule und Gymnasium in der Mittelstufe, ebenso Berufsschule, Berufsfachschule, Fachoberschule, Fachschule und gymnasiale Oberstufe. Sackgassen sollten beseitigt und neue Übergänge erschlossen werden. Auch die Integration von Sonderschülern in das allgemeine Schulwesen sollte erprobt werden.

Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates nahm diese Vorstellungen grundsätzlich auf: Einerseits empfahl sie 1969 ein Versuchsprogramm mit Gesamtschulen. Andererseits empfahl sie im Strukturplan (1970) eine der Förderstufe entsprechende Orientierungsstufe für die Stufen 5 und 6. Die Schularten der Mittel- und Oberstufe, die sie als Sekundarstufen I und II bezeichnete, sollten einander angenähert werden.

Was ist daraus geworden?
Die Orientierungsstufe als einzige Schulform für die Stufen 5 und 6 ist in weitem Ausmaß - inzwischen in Niedersachsen, Bremen und Hessen eingeführt worden. Hinzu kommt Berlin (West) mit seiner sechsjährigen Grundschule seit 1951. Das bedeutet, daß in der Mehrzahl der Länder eine Strukturreform für die Jahrgänge 5 und 6 bisher nicht stattgefunden hat.
In der Mittelstufe/Sekundarstufe I ist bisher nirgends das gegliederte Schulsystem durch die Gesamtschule ersetzt worden. In fünf Ländern - Berlin, Hamburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen - ist die Gesamtschule vierte Regelschulart neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium - in Bremen mit dem gesetzlich festgelegten Ziel, die herkömmlichen Schularten zu ersetzen.

1984 gab es etwa 300 Gesamtschulen. In Hessen besuchen 43 Prozent aller Siebtkläßler eine integrierte oder kooperative Gesamtschule. Im Saarland sind die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen worden.

Das Nebeneinander der vier Schularten der Sekundarstufe I verursacht eine Konkurrenzsituation zwischen ihnen. Bei sinkenden Schülerzahlen ‚schöpfen' Gymnasien zunehmend größere Anteile eher leistungsstärkerer Schüler ab. - In Bayern. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein blieb das dreigliedrige Schulsystem weitgehend unangetastet; Gesamtschulen gibt es dort allenfalls als Modellschulen, die ein Schattendasein fristen müssen.

Ähnlich ist es um die von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates empfohlene Annäherung der Schularten der Sekundarstufe 1 bestellt. Ein nach Profilen unterschiedliches, aber gleichwertiges ‚Abitur I‘ am Ende der Sekundarstufe 1 ist nirgends eingeführt worden. Sogar die Gesamtschulen müssen aufgrund der KMK-Vereinbarung von 1982 die traditionellen Abschlüsse des gegliederten Schulwesens vergeben. Zwar unterschiedlich in den Ländern, wurden jedoch manche Sackgassen abgeschafft, etwa durch die Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe für besonders ausgewiesene Real- oder Hauptschulabsolventen. Ein konsequentes Bemühen um Angleichung und Vereinheitlichung der Inhalte der Schularten der Sekundarstufe I ist vor allem in Bremen und Hessen festzustellen.

Für die Oberstufe/Sekundarstufe II hatte dieselbe Bildungskommission im Strukturplan gegenüber dem SPD-Modell eine Abschwächung vorgeschlagen: Es sollte durch Schulversuche erprobt werden, welche Integrationsformen sinnvoll sind. - Ein größeres Versuchsprogramm der Integration allgemeiner und beruflicher Bildung wurde jedoch nur in Nordrhein-Westfalen begonnen. 1981 bestanden hier 20 integrierte Kollegschulen.

Unter Berufung auf den Strukturplan beschloß die KMK 1972 eine Reform der gymnasialen Oberstufe. Neben Grundkursen in Pflichtfächern unterschiedlicher Inhaltsbereiche wurden Vertiefungen in Leistungskursen ermöglicht. Zudem wurde der herkömmliche Fächerkanon des Gymnasiums erweitert durch Gebiete wie Informatik, Datenverarbeitung, Technik, Ökonomie, Hauswirtschaft, Psychologie, Pädagogik, Medizin. Ein die fachlichen Aspekte zusammenführender ‚Gesamtunterricht', wie ihn das SPD-‚Modell für ein demokratisches Bildungswesen' vorschlug, wurde jedoch nicht eingeführt.

Die Verwirklichung der reformierten gymnasialen Oberstufe traf mit einer Verschärfung der Zulassungsbeschränkungen an Hochschulen zusammen. Der Numerus clausus ist mit Abiturzensuren gekoppelt. So gingen etliche Schüler in ihrer Wahl der Fächer dann Wege, die weniger ihrem Interesse entsprachen und die statt dessen auf vermeintlich leichterem Wege bessere Zensuren verhießen. Dieses ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Reformintentionen im Schulbereich durch Entwicklungen außerhalb der Schule unterlaufen wurden, Angesichts dieser Situation und auch wegen der fehlenden Ausstattung der Gymnasien mit entsprechenden Lehrerqualifikationen und Fachräumen kam es kaum zum Angebot insbesondere technischer oder hauswirtschaftlicher Kurse. Für dieses Angebot gibt es wenige berufliche Gymnasien, die sich als Bestandteile des beruflichen Schulwesens verstehen (technische Gymnasien, Wirtschaftsgymnasien. Oberstufenzentren).

Berücksichtigt man die Fachoberschulen, so ist das Monopol des Gymnasiums für die Erteilung der Hochschulzugangsberechtigung abgeschwächt: 1983 wurden 8 Prozent aller Zugangsberechtigungen für Universitäten an berufsbildenden Schulen erworben; ferner wurden dort 92 Prozent aller Zugangsberechtigungen zu Fachhochschulen erworben. Das heißt: 30 Prozent aller Hochschulzugangsberechtigungen kamen aus dem berufsbildenden Schulwesen.

Es gibt weitere Teilerfolge:

Die meisten Kinder besuchen vor der Einschulung einen Kindergarten oder eine Vorklasse. Die Zahl der Plätze ist in den letzten 20 Jahren deutlich erhöht worden. Pädagogisch wichtiger aber ist die Frage, was in der Vorschulerziehung geschieht: Eine Vorwegnahme von Lerninhalten der Grundschule oder vornehmlich soziales Lernen, Stabilisieren der Identität, Pflege der Kreativität?

Eine Integration von Sonderschülern in allgemeine Schulen gibt es in. einer Reihe von Schulversuchen. Besonders bei körperbehinderten und lernbehinderten Kindern gibt es hier gute Ergebnisse, die auch praktisch eine Ausweitung nahelegen, wobei die zusätzliche heilpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen voll gewährleistet sein muß.

Es gibt heute erheblich mehr Ganztagsschulen als zu Beginn, der Reform, auch wenn das Angebot bei weitem noch nicht der Nachfrage entspricht. Vorbehalte gegen die Ganztagsschule, besonders familienideologische gibt es im Gegensatz zu den 60er Jahren kaum noch.

Dort, wo in den 60er und 70er Jahren entschlossene Reformschritte begonnen wurden, wichen konservative Eltern diesen zuweilen dadurch aus, daß sie ihre Kinder auf konventionell arbeitende Privatschulen schickten. Heute ist gelegentlich das Umgekehrte zu beobachten:
Kinder werden auf bestimmte eigens gegründete sogenannte „Freie Schulen“ oder bestimmte vorhandene Privatschulen (z.B. Waldorf-Schulen) geschickt, um einer Leistungs- und Eliteideologie in etlichen öffentlichen Schulen auszuweichen.

Zur Bilanz der Änderungen in der Schulstruktur bleibt aus sozialdemokratischer Sicht anzumerken: Ein Nebeneinander von gegliedertem Schulsystem und Gesamtschule sollte befristet sein. Gesamtschulen werden sich als so attraktiv erweisen, daß sie Eltern und Schüler überzeugen. Lehrer sollen in Modellversuchen ‚Gesamtschule erlernen'. Aber schließlich soll - wie in den meisten vergleichbaren Staaten Nord-, West- und Südeuropas - die Gesamtschule die einzige Schulart sein.

Die Differenzierungsmodelle der Gesamtschule zu Beginn der Entwicklung waren als Einstiege gedacht, die nach und nach durch mehr Gemeinsamkeit ersetzt werden sollten. Das Gegenteil ist geschehen: Spätestens seit der KMK-Vereinbarung von 1982 liefert - von Ausnahmen abgesehen - das herkömmliche Schulwesen die Normen für Differenzierungen in der Gesamtschule.

Nun kann man in einer solchen Bilanz Erfolge und Mißerfolge einmal daran messen. welche Annäherungen zwischen Konzeption und Verwirklichung bestehen. Man kann aber auch den Zustand vor Beginn der Reform mit dem Erreichten vergleichen.

Dazu einige Beispiele:

 Hauptschule ist - auch im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme durch Ausländerkinder quantitativ und qualitativ etwas anderes als in den 60er Jahren. Sie ist vielerorts längst nicht mehr ‚Haupt'-Schule.

 Heute erreichen - auf verschiedenen Wegen -etwa 60 Prozent aller Schüler mindestens einen Realschulabschluß. 1963 waren es nicht einmal 20 Prozent.

 Zwar ist das sozialdemokratische Konzept einer Doppelqualifikation am Ende einer integrierten Oberstufe - erster beruflicher Abschluß auf Facharbeiterebene und Hochschulberechtigung - institutionell nicht verwirklicht. Aber zahlreiche Abiturienten schrecken - wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen vor der Aufnahme eines Studiums zurück. 1970 wollten 90 Prozent der Abiturienten ein Studium aufnehmen; 1983 waren es nur noch 69,9 Prozent der männlichen und 53,4 Prozent der weiblichen Abiturienten. Viele Jugendliche absolvieren nach dem Abitur eine Berufsausbildung im dualen System oder an Berufsfachschulen oder Fachschulen.

Die SPD forderte Anfang der 60er Jahre: ‚Mehr Bildung und bessere Bildung für alle!' Hier gibt es deutliche Erfolge. Picht verengte diesen Ansatz, indem er vor allem eine Verdopplung der Abiturientenzahlen forderte. Dieses Ziel ist inzwischen weit übertroffen, und zwar nicht durch die Gesamtschule. Denn schon Anfang der 60er Jahre hatten Eltern aus den neuen Mittelschichten begonnen, ihre Kinder überwiegend zum Gymnasium zu schicken. Das Gymnasium selbst - mit solchen Kindern unerfahren - bestand die neue Anforderung recht gut, auch unter der Herausforderung durch das Konzept der Gesamtschule. Während besonders auch Angehörige der neuen Mittelschichten in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Forderung nach der Gesamtschule unterstützten. bemerkten sie zugleich, daß ihre Kinder auch auf dem sich ändernden Gymnasium erfolgreich waren. Die SPD begrüßt dieses Ergebnis, auch wenn es nur einen Teilaspekt ihrer schulpolitischen Zielsetzung beinhaltet und zudem auf einem anderen Wege erreicht wurde.

Auch im beruflichen Schulwesen ist eine ähnliche ‚Verwerfung' zu beobachten, die jedoch erheblich problematischer ist. Sie zeigt sich im Berufsvorbereitungsjahr und an anderen beruflichen Vollzeitschulen: Hier drängen Jugendliche hinein, die im dualen System keinen Ausbildungsplatz fanden. Berufsfachschule wird also oft zur zweiten oder dritten Wahl Das gilt nicht nur für Jugendliche ohne Hauptschulabschluß oder für Absolventen von Sonderschulen, sondern auch besonders für Hauptschulabsolventen mit Abschluß an Berufsfachschulen oder für Jugendliche mit Realschulabschluß an Fachoberschulen. Sie ‚parken' dort, oft ohne Lernmotivation und berufliche Perspektive.

I.6 Ergebnisse und Aufgaben

Zwischen den Zielvorstellungen der SPD oder auch denen des Deutschen Bildungsrates und dem aktuellen Zustand des Schulwesens gibt es eine beträchtliche Lücke.

Einiges ist erreicht worden. Manches ist anders verlaufen als gewollt und geplant. Etliches hat sich als zu kurzatmig erwiesen oder war zu halbherzig. Das meiste ist allenfalls auf den Weg gebracht worden und ist noch offen und unerledigt.

Meinungsbefragungen weisen nach, daß die Ablehnung zentraler Reformziele seit dem Ende der 70er Jahre deutlich gestiegen ist. Nur die Grundschule - mit ihren reformierten Lehrplänen und ihrem teilweisen Verzicht auf Sitzenbleiben und Zensuren - findet überwiegende Zustimmung. Allerdings ist die Kenntnis über einzelne Aspekte der Schulreform recht gering; nur knapp die Hälfte der Befragten kreuzte zum Beispiel die richtige Beschreibung der Gesamtschule an.

Größtes Gewicht haben inzwischen die Schwierigkeiten, einen Ausbildungs- oder Studienplatz zu erhalten und im Anschluß an die berufliche Erstausbildung eine ‚geglückte Berufseinmündung' zu erleben. Demgegenüber verlieren Ziele der Schulreform offensichtlich an Gewicht. Erwartungen vieler an die Schule sind geprägt von Stichworten wie Disziplin, Allgemeinwissen, Höflichkeit, Rechtschreiben. Demgegenüber folgt ‚kritisches Denken' erst in weitem Abstand. Vermutete Forderungen des Beschäftigungssystems beherrschen die Wünsche einer Mehrheit der Eltern gegenüber der Schule. Auch eigene Erfahrungen und Beobachtungen dürften dabei eine Rolle spielen.

Auf der anderen Seite sind Erfolge der Schulreform besonders dann unverkennbar, wenn zum Beispiel Bildungsbeteiligung, Art der erreichten Abschlüsse, Umgang zwischen Schülern und Lehrern bei Beginn der Reform mit der jetzigen Situation verglichen werden. Gerade unter diesen Aspekten hat die Schulreform tatsächlich stattgefunden. Sie ist keine propagandistische Behauptung der Sozialdemokraten. Denn der Modernisierungsschub seit 1965 ist sehr deutlich.

Die Schulreform war auch nicht vorwiegend eine äußere Reform der Organisationsstrukturen. Inhalte und Arbeitsformen aller Schularten haben sich in dieser Phase ebenso gewandelt wie die Zusammensetzung ihrer Schüler.
Die Schulreform ist also nicht gescheitert. Sie hat ‚Verwerfungen' erlitten. Ihr ist der anfängliche Schwung abhanden gekommen. und auch die Akzeptanz bei Schülern. Eltern und Lehrern und in der Öffentlichkeit hat gelitten.

Wichtige Ziele der Bildungsreform, wie sie die SPD, die Gewerkschaften und auch der Deutsche Bildungsrat formuliert haben, sind noch nicht erreicht. Unsere Kernforderungen sind nach wie vor gültig und richtig, denn sie stehen in der demokratischen Tradition des Humanismus der Aufklärung und der Arbeiterbewegung. Für wesentliche Teile in beiden christlichen Kirchen gibt es inzwischen keine Widersprüche mehr zu diesen Zielen.
Deshalb kommt es darauf an, als richtig und notwendig erkannte Ziele und Perspektiven auf die aktuelle Situation zu beziehen. Das soll auch in diesen Thesen zum sozialdemokratischen Verständnis von Bildung geschehen. Hier werden Bestandteile der umfassenden Reformkonzeption wieder aufgenommen, die zwischenzeitlich zwar nicht vergessen, wohl aber vernachlässigt worden sein mögen.

II. Bildung als aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderung

Der bilanzierende Rückblick auf Erreichtes und nicht Erreichtes macht deutlich, daß Schulreform eire langwieriger und niemals abgeschlossener Prozeß ist. Er macht aber auch deutlich, daß die Arbeit an und in. diesem Prozeß nicht vergeblich ist, weil es neben allen Rückschlägen immer wieder Fortschritte gegeben hat. Dieser Fortschritt ist um so größer, je mehr es gelingt, einer breiten Mehrheit der Bevölkerung den Zusammenhang zwischen den großen Zielen der Schulreform und den aktuellen Bedürfnissen und Problemlagen der einzelnen in der Gesellschaft deutlich zu machen.

Bildungsreform ist also weder Vorreiter noch Nebensache der Gesellschaftsreform - sie ist ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg - für Freiheit, für Gerechtigkeit und Gleichstellung der Lebensbedingungen, für die Emanzipation der Frauen, für Solidarität, Gewaltfreiheit und vernünftigen Umgang mit der Natur. Je mehr Schritte zu diesen Zielen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gelingen, desto erfolgreicher wird auch die Schulreform sein.

Wer Schulreform vorantreiben will, muß diesen Zusammenhang immer wieder erkennen und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Für die kommenden Jahre bedeutet dies, angesichts von Ausbildungsplatzmangel, Arbeitslosigkeit und neuen technologischen Entwicklungen den Stellenwert zu verdeutlichen, den die Schulreform im Spannungsfeld zwischen Bildung und Beschäftigung einnimmt. Es bedeutet darüber hinaus, die Notwendigkeit von Schulbildung neu zu begründen angesichts der Herausforderung der Schule durch das zunehmende Angebot neuer Medien und neuer Lernorte. Beides zusammengenommen macht die Aktualität einer neuen Debatte über Ziele, Inhalte und Begründungszusammenhang der Schulbildung aus.

II.1 Herausforderung durch das Beschäftigungssystem

Zunächst soll an die Herausforderung durch das Beschäftigungssystem angeknüpft werden.
In der Mitte der 80er Jahre verschwimmt unter dem Eindruck der Massenarbeitslosigkeit, die nun schon viele Jahre besteht und deren Ende nicht absehbar scheint, für viele Menschen der Bezug zur Erwerbstätigkeit. Zwar bleiben für den Zugang zur Ausbildung und den Einstieg in bezahlte Arbeit Schul- und Ausbildungsabschlüsse nahezu unverzichtbar, gleichwohl erlebt eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern und Arbeitssuchenden, daß erlerntes Wissen nicht mehr zur Anwendung kommt: weil überhaupt keine Erwerbstätigkeit gefunden wird, weil nur in ausbildungsfernen Berufen eine Erwerbstätigkeit zugänglich ist, weil erworbene Fähigkeiten im erlernten Beruf wegtechnologisiert werden.

In der Tat ist eine Zukunft der Arbeit und der Arbeitsteilung denkbar, in der der Umfang bezahlter Arbeit immer geringer und in der die verbleibende bezahlte Arbeit immer zerstückelter wird.

Inzwischen ist allgemein deutlich geworden: Weder über Wirtschaftswachstum noch auf dem Weg einer forcierten Einführung neuer Technologien ist es zu verhindern, daß bei einer Fortführung der bisherigen Art der Arbeitsteilung unter Beschäftigte und Nichtbeschäftigte, also ohne Veränderung der Arbeitszeit, ein erheblicher und eher noch wachsender Teil der Bevökerung arbeitslos bleiben wird. Des weiteren, so steht zu befürchten, wird die verbleibende bezahlte Arbeit auch weiterhin gemäß der Entwicklungslogik des Taylorismus geteilt: So wie im Verlauf der Industrialisierung immer mehr Erfahrungswissen aus den Köpfen der Arbeiter in die der Ingenieure verlagert wurde, so wie bisher auf diesem Wege die Trennung von Vorstellung und Ausführung immer weiter vorangetrieben wurde, so kann auch in Zukunft jede Art von menschlicher Arbeit, soweit sie gegen Bezahlung verrichtet wird, weiter zerstückelt werden. Ja, dies kann noch gesteigert werden: Während in der Vergangenheit anspruchsvolle Arbeit zwischen Menschen, z.B. Arbeitern und Ingenieuren, aufgeteilt wurde, so erlaubt der Fortgang technologischer Entwicklung zukünftig die Teilung auch dieser Arbeit zwischen Menschen und Maschinen. Wie ehedem das Wissen der Arbeiter, so kann jetzt das der planenden, disponierenden, konstruierenden und diagnostizierenden Experten abgezogen und verlagert werden - endgültig fort von den Menschen zu Maschinen und Expertensystemen.

Vor allem konservative Gesellschafts- und Bildungspolitiker nehmen diese möglichen Entwicklungen zum Anlaß, Bildung in Schulen und Hochschulen wieder verstärkt an Erfordernissen des Beschäftigungssystems auszurichten. Ihnen werden die Schwierigkeiten dort, nämlich die Probleme bei der Versorgung mit Ausbildung und Erwerbstätigkeit, zum willkommenen Anlaß, überkommene Herrschaft und die tradierte Verteilung von Privilegien durch eine rationierte Zuteilung von Bildung auch kulturell abzusichern. Die Instrumente einer darauf zielenden Schulpolitik liegen bereit; sie wurden ja in den Expansions- und Reformjahren nicht abgeschafft: So lassen sich die Steuerungen beim Übergang von der Grundschule in das gegliederte Schulwesen wieder ‚griffiger' machen; die Mechanismen der Leistungskurse in Haupt- und Gesamtschulen lassen sich verstärkt für schulische Auslese in Dienst nehmen; das Sitzenbleiben als Mittel der Zurücksetzung ist unbeschädigt geblieben; eine neuerliche Rückbesinnung auf bürgerliche Bildungsinhalte hält bildungsferne Schichten der Bevölkerung auf Distanz zu höheren Schulen; die generelle Verteuerung von Bildung trifft vor allem Arbeitnehmerhaushalte mit geringem Einkommen.

Diese Politik der Abschottung einzelner Bereiche des Bildungssystems will einem Teil der Bevölkerung eine Teilhabe an umfassender Bildung vorenthalten sowie Bildungsbeschränkungen erneuern und verfestigen. Zugleich will diese Politik einem anderen, allerdings kleineren Bevölkerungsteil den Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten offenhalten. Die Risiken dieser Politik, die der Unter- bzw. Fehlqualifikation sollen dabei durch Polyvalenz und (privatwirtschaftlich organisierte und firmenbezogene) Weiterbildung verringert werden. Diese Politik setzt an die Stelle der Öffnung des Bildungswesens für alle erneuerte Auslese und die Förderung weniger; die bevorzugte Förderung kognitiv „Hochbegabter“ liegt in ihrer Konsequenz.

II.2 Steigende Nachfrage nach Bildung erfordert Offenhalten der Bildungsgänge

Ob aber eine Gesellschafts- und Bildungspolitik, die auf diese Weise auf das Abdrängen und Ausgrenzen vieler zielt und die viele der noch nicht abgedrängten und ausgegrenzten Bürger in Angst vor dem Absturz hält, durchsetzbar ist, bleibt fraglich. Sie müßte sich gegen viele der Bürger und ihre Kinder wenden, die zugleich Träger konservativer Gesellschaftspolitik sind, nicht zuletzt gegen viele von denen, die ihrerseits erst durch Bildung individuell aufgestiegen sind. Schulpolitik, die insgesamt Abgrenzung und Auslese wieder zum leitenden Prinzip erhebt, setzt sich direkt in einen Gegensatz zu dem fast schon säkularen Trend ständig wachsender Nachfrage nach der Teilhabe an höheren Schulen sowie der an ihnen vergebenen Berechtigungen.

Wenn man in der kurzen Geschichte der Bundesrepublik die Entwicklung der Nachfrage nach Schulbildung verfolgt und wenn man diese Nachfrage an der Bildungsbeteiligung in Volks- und Hauptschulen, in Realschulen, in Gymnasien und neuerdings in Gesamtschulen mißt, so fällt auf, daß der Zulauf zu den höheren Schulen und die Abwendung von Volks- und Hauptschulen die vierzig Nachkriegsjahre nahezu gleichmäßig bestimmt hat - unabhängig von äußeren Bedingungen in Staat und Gesellschaft, von wirtschaftlicher Entwicklung, von Bildungspolitik und von Bildungswerbung. Der Satz aus den Jahren der Bildungswerbung „Schick dein Kind länger auf bessere Schulen“ wurde in jeder Phase der Nachkriegsentwicklung befolgt, bevor er ausgesprochen wurde.

Als sich die Bundesrepublik zu verfestigen begann, leisteten sich Eltern aus bis dahin bildungsfernen Schichten für ihre Söhne und Töchter mehr Bildung. Als in den 60er Jahren - aus damals sehr unterschiedlichen Gründen: hier sind sowohl die Forderung „Bildung ist Bürgerrecht“ als auch die Kassandrarufe von der „Bildungskatastrophe“ zu nennen -, für mehr Bildung geworben wurde, reagierten die Eltern mit steigender Nachfrage nach höher qualifizierenden Schulen. Seit schließlich in den 70er Jahren mit der Entstehung von Massenarbeitslosigkeit für den Einstieg in Ausbildung und Beruf Schulabschlüsse immer wichtiger wurden, steigerten Eltern weiter ihre Bemühungen um hohe Schulabschlüsse. Seit den ersten Nachkriegsjahren streben die Bürger der Bundesrepublik für sich und ihre Kinder, wo nicht hoch aufgerichtete Hürden den Zugang zu Bildung und Ausbildung erschweren, hochqualifizierende Bildungsabschlüsse an - ohne sich von Wechselfällen wirtschaftlicher Konjunkturen darin beirren zu lassen.

Dieses Verhalten führte zu der vielfach beschriebenen Bildungsexpansion, in deren Verlauf mehr Kinder länger zur Schule gingen und höherwertige Schulabschlüsse erreichten, in deren Verlauf Mädchen ihre fast schon klassische schulische Benachteiligung überwinden konnten, in deren Verlauf aber auch die auf Selektion ausgelegte Struktur der Schulen nicht aufgehoben wurde.

Wer nun dieses Selektionspotential des Schulsystems der Bundesrepublik wieder verstärkt aktivieren möchte, der muß mit vielfältigem Widerstand rechnen, gerade auch aus den Reihen derer, die sonst durchaus konservative Politik stützen: Viele Eltern der kommenden Schülergeneration, selbst erst im Verlauf der Bildungsexpansion und zum Teil auch durch sie sozial aufgestiegen, werden kaum widerstandslos zusehen, wenn ihre Kinder wieder aus den höheren Schulen verbannt werden sollen. Gestützt werden sie dabei von den Lehrenden an diesen Bildungsinstitutionen, die teilweise aus Überzeugung den unpädagogischen Charakter jeder Selektion ablehnen, die aber auch teilweise bei sinkenden Schüler- und Studentenzahlen im Interesse des Erhalts ihrer Institution Verschärfungen der Selektion ablehnen.

Eine Politik, die sich für ein Offenhalten des Bildungssystems einsetzt, die sich gegen verschärfte schulische Selektion als Antwort auf Unterbringungskrisen am Arbeitsmarkt richtet, verfügt über eine breite soziale Basis bei all denen, die immer schon und immer noch benachteiligt wurden und werden, sowie bei denen, die neuerdings um den Erhalt des gerade erst erworbenen sozialen Status fürchten müssen. Eine Politik, die weiterhin auf breite Bildungsmöglichkeiten für die gesamte Bevölkerung setzt, bleibt allerdings unvollständig, wenn sie einerseits die Höherqualifizierung aller anstreben würde, sich andererseits aber von den Einmündungsschwierigkeiten. die so Ausgebildete im Beschäftigungssystem vorfinden, hilflos abwenden würde.

II.3 Angepaßte Technologien

Eine solche Bildungspolitik macht nur Sinn. wenn sie verbunden ist mit einer anderen Perspektive gesellschaftlicher Arbeitsteilung, in der Menschen nicht weiter als Anhängsel technischer und organisatorischer Systeme verstanden werden, sondern in der der Anspruch einer sozialen Beherrschung technologischer und ökonomischer Entwicklungen erhoben wird. Für eine solche Perspektive geben neuere industriesoziologische Studien zahlreiche Hinweise. Die Befunde dieser Untersuchungen sowohl zur Arbeitsteilung in produzierenden wie auch in verwaltenden Bereichen deuten darauf hin, daß der von der Industriesoziologie bisher als fast gesetzmäßig beschriebene Entwicklungsprozeß fortschreitender Zerteilung der Arbeit (Taylorismus) keine Einbahnstraße ist und daß Arbeitsteilung auch andere Wege einschlagen kann.

Sowohl die technologische Entwicklung als auch betriebswirtschaftliche Erfolgsrechnungen - so heißt es in dieser Denkrichtung - legten eine Arbeitsorganisation nahe, in der an zahlreichen Arbeitsplätzen ein mehr ganzheitlicher Aufgabenzuschnitt sinnvoll sei. Nicht der weiteren Zerstückelung der Arbeit, sondern der Reprofessionalisierung der Industrie und der Verwaltungsarbeit gehöre die Zukunft.

In keiner dieser industriesoziologischen Analysen zur Zukunft der Arbeitsteilung wird allerdings die bisherige Einschätzung auf den Kopf gestellt, indem nun gesagt würde, die zukünftige Arbeitsorganisation würde sich gleichsam automatisch in die Richtung mehr ganzheitlicher Tätigkeiten der Arbeitnehmer entwickeln. Gemeinsam ist diesen Untersuchungen die Einschätzung, daß sich hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Arbeitsorganisation ein Gestaltungsspielraum auftue. Eine, allerdings nur eine unter anderen Voraussetzungen zur Nutzung dieser Gestaltungsspielräume liege, so die Aussagen dieser Studien, in der entsprechenden Bildung und Ausbildung der Beschäftigten. Denn nur, wenn die Arbeitnehmer vor Ort gut ausgebildet und darüber hinaus bereit und in der Lage sind, ständig dazuzulernen und sich jeweils neue Fähigkeiten anzueignen, wird eine anspruchsvolle Gestaltung möglichst vieler Arbeitsplätze realisierbar.

Damit ergibt sich eine Art der Verknüpfung zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem, in der Schulbildung Optionen für eine menschenwürdige Arbeitsteilung sichern hilft und in der umfassende Bildung für alle auch mit Blick auf das Beschäftigungssystem Sinn macht. Diese Perspektive findet eine zusätzliche Stütze in der ökologisch begründeten Forderung nach angepaßten Technologien und selektivem bzw. qualitativem Wachstum. Nach einer langen Entwicklungsphase harter Technologie, die durch Megastrukturen und -maschinen, durch sinnentleerte und zerteilte Arbeit gekennzeichnet war, ist eine Neubestimmung der Anforderungen an Technologien erforderlich: Technologien müssen für die Befriedigung grundlegender materieller Bedürfnisse produzieren, ökologische Gleichgewichte erhalten und in Strukturen einbezogen sein, die die Befriedigung grundlegender immaterieller Bedürfnisse zulassen. Aus dieser Zielsetzung leitet sich die Idee qualitativen Wirtschaftswachstums ab, in dem Wirtschaften sowohl umweltverträglich als auch Arbeitsplätze schaffend ist. Bereiche, in denen qualitatives Wachstum erreichbar ist, sind insbesondere die Energiepolitik (alternative Gewinnung von Energie sowie Verhinderung der Verschwendung von Energie), die Telekommunikation (Entwicklung lokaler Programme, Zielgruppenprogramme Einsatz der Dialogmöglichkeiten für Beratungsdienste - ‚Memorandum '82: Qualitatives Wachstum statt Gewinnförderung - Alternativen der Wirtschaftspolitik', 1982), die Stadt- und Dorfsanierung, der öffentliche Nah- und Fernverkehr sowie die Wiederaufbereitung von Abfällen sowie der Ausbau neuer Dienstleistungen im Handwerk, in den Freizeitangeboten, in Bildung und Weiterbildung.

Insgesamt ist die hier skizzierte Perspektive der Gestaltung zukünftiger Erwerbstätigkeit damit durch drei Elemente gekennzeichnet: Die durch den einzelnen geleistete Arbeitszeit wird verkürzt, so daß mehr Menschen Arbeit finden. Erwerbstätigkeit richtet sich verstärkt auf Bereiche qualitativen Wachstums, so daß die Umwelt schonender behandelt wird. Die Anforderungen an die Arbeit des einzelnen werden wieder anspruchsvoller, so daß der einzelne weniger sinnentleert arbeiten muß. Diese Perspektive erfordert nicht weniger, sondern mehr Bildung für alle - sei es nun allgemeine Schulbildung, berufliche Erstausbildung oder Weiterbildung. Dies gilt um so mehr, als davon ausgegangen werden muß, daß die hier skizzierte Zukunft der Arbeit keineswegs deterministisch vorbestimmt ist. Eine Annäherung an diese Perspektive wird sich nur einstellen, wenn vorhandene Gestaltungsspielräume mit dem Willen zur sozialen Beherrschung technologischer Entwicklungen genutzt werden.

Dieser Gestaltungswille kann aber nur von Menschen erwartet werden, die bereit und fähig sind, ihre Vorstellungen im Rahmen betrieblicher sowie überbetrieblicher Mitbestimmung und politischer Mitentscheidung durchzusetzen. Auch dies setzt umfassend gebildete Arbeitnehmer voraus. Auch vom Maß ihrer Bildung wird es abhängen, ob sie die ihnen mehr und mehr zuwachsende erwerbsfreie Zeit für sich und die Durchsetzung ihrer Interessen nutzen können.

Vor diesem Hintergrund wird klar, daß der Widerstand der Arbeitgeber gegen Arbeitszeitverkürzung und damit gegen mehr Freizeit nicht ausschließlich Folge einer auf Gewinnoptimierung bedachten Unternehmenspolitik ist. Vielmehr fürchten die Unternehmer in der Auseinandersetzung um die Umverteilung von Arbeit und damit um die Arbeitszeitverkürzung einen Kampf um ein zentrales Mittel der kulturellen Befestigung von Gehorsam, Anpassungsbereitschaft und Triebverzicht. Denn in dem Maß, in dem die Arbeitszeit geringer wird, kann so die von der Arbeitszeit abgekoppelte Freizeit für Zwecke benutzt werden, die mit den Herrschaftsregeln der Produktion keineswegs mehr ohne weiteres übereinstimmen. Dadurch aber könnte aus der Freizeit ein Zuwachs an persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit erwachsen, so daß der Kampf gegen mehr Freizeit, der gegenwärtig seitens der Unternehmer gegen die Forderung der 35-Stunden-Woche geführt wird, zugleich ein Kampf gegen die Autonomie der Einzelnen ist.

II.4 Kampf um kulturelle Hegemonie

Wenn man diesem Verständnis folgt, so dürfen auch die gegenwärtigen Kontroversen um Medienkonzerne, Verkabelung sowie Privatisierung von Rundfunk und Fernsehen nicht ausschließlich und verkürzt als gewinnorientierte Bemühungen um Anteile am wachsenden Medienmarkt gedeutet werden. Darum geht es auch. Aber darüber hinaus geht es um die Kontrolle des Bewußtseins der Arbeitnehmer, damit wahr wird, was Nell-Breuning befürchtet, nämlich „daß die Menschen, wie ich manchmal boshaft formuliert habe, den einen Teil ihres Daseins sich ausbeuten lassen im Produktionsprozeß und den anderen Teil ihres Lebens, weil sie mit ihrer Freizeit nichts anzufangen wissen, sich ausbeuten lassen von der Freizeitindustrie“ (1984). Auf diese Weise stellt sich konservative Medienpolitik auch als vor-sorgliche Maßnahme dar, in der für die Bewußtseinsindustrie Voraussetzungen geschaffen werden, Meinungsbildung sowohl im Sinne eines kapitalistischen Verwertungsinteresses als auch im Sinne der Herrschaftssicherung zu betreiben.

In diesem Kampf um kulturelle Hegemonie wird das Bildungssystem nicht ausgenommen. Wie sein Beitrag zur Verhinderung massenkulturell geprägter Überfremdung aussehen könnte, läßt sich ansatzweise unter Berufung auf tradierte emanzipatorische Bildungsziele („Erziehung zur Mündigkeit“) angeben. Hier einen Weg zu finden, der konsumorientiertes Bildungsverhalten und damit Unterwerfung unter die Bewußtseinsindustrie vermeidet, ohne an dessen Stelle sozialromantische Ideen restaurieren zu wollen, wird schwerfallen. In jedem Falle bedarf es dazu eines demokratischen Bildungsverständnisses.

Ein demokratisches Bildungsverständnis kann an die Tradition bildungstheoretischen Denkens anknüpfen und annehmen, daß die Menschen durch Bildung fähig werden. die lebenspraktischen Herausforderungen ihrer Zeit zu bestehen und nach ihren eigenen Vorstellungen ein erfülltes Leben zu führen. Bildung ist Voraussetzung und Ergebnis der Selbstverwirklichung der Menschen und befindet sich damit in einer kritischen Spannung zu den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, was das traditionelle Bildungsdenken allerdings häufig übersehen hat. Das klassische Ziel der Befreiung des Menschen zu sich selbst, zu Urteil, Kritik und Handlungsfähigkeit bleibt der Kern des Bildungsverständnisses. Aber die Zwänge. Anforderungen und Gegenwirkungen einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft können durch Bildungsanstrengungen allein nicht überwunden, sondern nur bewußt gemacht und kritisiert werden. Bildung bleibt in das - auch fruchtbare - Spannungsverhältnis von Emanzipation und Herrschaft gestellt.

Die Bildungspolitik wirkt zu ihrem Teil daran mit, daß jeder einzelne die geistigen. seelischen und gesundheitlichen Voraussetzungen dafür schaffen kann, seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft wird er zugleich befähigt, sich in seiner Wirklichkeit zu behaupten und diese Wirklichkeit in Richtung auf eine menschenwürdige Gesellschaft zu verändern, worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist.

Die SPD wendet sich deshalb mit Nachdruck gegen jeden Versuch, Bildung lediglich als Qualifikation der Ware Arbeitskraft zu begreifen und den Menschen darauf zu reduzieren, wirtschaftliche Leistungen möglichst reibungslos zu erbringen und sich im übrigen kritiklos, phantasielos und initiativlos in ungerechten Verhältnissen einzurichten, also nicht Subjekt seiner Geschichte zu sein, sondern bloßes Objekt von Herrschaft und Marketing. Das neo-konservative Projekt, dem sich maßgebliche Teile der bürgerlichen Parteien verschrieben haben, ist ein solcher Versuch: Unter Mißbrauch des christlichen Namens wird ein aggressiver Verteilungskampf der „Elite“ gegen die „Masse“ vorangebracht. Verschärfte Konkurrenz in einer Ellenbogengesellschaft soll die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöhen; entmündigende Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft sollen weiterhin dafür sorgen, daß ein derart verarmtes Leben akzeptiert und der kritische Geist aus dem öffentlichen Bewußtsein ausgetrieben wird.

II.5 Demgegenüber bekräftigt die SPD:

 Die Wahrung des Friedens, die Überwindung von Not und die Achtung der Natur bedürfen selbstbewußter, kluger und moralisch sensibler Menschen. Nur sie können die Widersprüche überwinden, zu denen die dominante Orientierung von Wirtschaft und Technik an Wachstum und Profit die Menschheit geführt hat.

 Die Herausforderungen des technischen Wandels und der Verknappung bezahlter Arbeit erfordern nicht weniger. sondern mehr Bildung, nicht ein geringeres, sondern ein erweitertes Verständnis der Welt und der Kultur, nicht noch mehr Egozentrik. sondern mehr gegenseitige Rücksichtnahme und solidarisches Handeln.

 Menschen werden in ihrer Würde verletzt und erniedrigt, wenn ihnen der Zugang zu den zentralen Fragen und Erfahrungen ihres Lebens Freude und Trauer, Genuß und Verlust, Liebe und Tod - durch Entmündigung und banalen Konsum versperrt wird, Bildung muß die Menschen auch befähigen, nachdenklich, kenntnisreich und kreativ mit den Fragen ihrer persönlichen Lebensgestaltung umzugehen.

Gegenüber der neo-konservativen Eingrenzung menschlicher Lebensmöglichkeiten erinnert die SPD an den Verfassungskonsens des Grundgesetzes. in dessen Mitte die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Auftrag einer sozialen Demokratie stehen. Diesen Verfassungskonsens gilt es zu bekräftigen und zu beleben. indem eine Gesellschaft geschaffen wird, die den Menschen Raum für die Entfaltung ihrer humanen Möglichkeiten gibt. Die Erfahrung hat gezeigt, daß eine vorwärtsweisende Bildungspolitik, die nur auf sich selbst gestellt ist, gegen die Vorherrschaft der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und der hieran orientierten Erwartungen und Verhaltensweisen der Menschen nicht ankommt. Keine Gesellschaft kann sich am Schopf des Bildungswesens aus dem Sumpf ihrer Probleme ziehen. Aber wir können uns ebensowenig damit abfinden, daß die inhumanen Züge der Gesellschaft sich in der Bildung einfach widerspiegeln und reproduzieren. Die SPD versteht deshalb den Kampf um humane Bildung als Teil ihres Bestrebens, eine menschlichere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Bildungspolitik, wirtschaftliche und gesellschaftliche Mitbestimmung, Humanisierung der Arbeit und ein pfleglicher Umgang mit der Natur sind sich gegenseitig bedingende Faktoren einer Politik, die auf einen demokratischen Sozialismus abzielt.

Dieser bildungspolitischen Konzeption liegt (wie im folgenden auszuführen ist) ein Verständnis von Bildung zugrunde, in dem die (objektiven) Anforderungen, die sich aus einer human gestalteten Entwicklung der Gesellschaft ergeben, mit den (subjektiven Bedürfnissen und Interessen des einzelnen an Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zu einer Einheit verbunden werden. Die programmatische Verbindung von objektiven und subjektiven Momenten im sozialdemokratischen Bildungsverständnis hängt eng mit den Grundwerten zusammen, an denen sich die Arbeiterbewegung in ihrer historischen. Entwicklung stets orientiert hat: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Diese Grundwerte sind keine normativen Setzungen, sondern Ergebnisse historischer Erfahrung und Ausdruck der sozialen und politischen Interessen von Menschen, die immer noch um ihre gesellschaftliche Emanzipation ringen müssen. Den Grundwerten entspricht ein Menschenbild, in dem der einzelne in seiner Möglichkeit zu Humanität und Freiheit, zu Mitbestimmung und demokratischer Verantwortung und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit begriffen wird.

Trotz der Einheit von subjektiven und objektiven Momenten im Bildungsprozeß stellt sich die allseitige Entfaltung individueller Fähigkeiten letztlich als eine persönliche Aufgabe dar, die vom einzelnen selbst geleistet werden muß. Aber auch diese individuelle Bildungsleistung bleibt eingebunden in erzieherische Einwirkungen und Hilfestellungen der Gesellschaft. Deshalb kann die dialektische Einheit von individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen der Bildung nicht aufgelöst werden - weder im Sinne einer „Pädagogik reiner Spontaneität und Subjektivität“, noch im Sinne einer „Pädagogik der Anpassung“ an herrschende gesellschaftliche Verhältnisse.

Ein Bildungsbegriff, in dem sich persönlicher Sinn und gesellschaftliche Bedeutung individueller Fähigkeitsentwicklung vereint, darf darüber hinaus nicht in den traditionellen Dualismus von geistiger Allgemeinbildung und praktischer Berufsbildung zerfallen. Deshalb richtet sich sozialdemokratische Bildungspolitik auf eine inhaltliche und formale Integration allgemeiner und beruflicher Bildung.

Diese Forderung erhält eine aktuelle Begründung durch den Umstand, daß angesichts der neuen Technologien Berufsausbildung theoretischer werden muß, um Disponibilität und aufgabenintegriertes Arbeiten zu ermöglichen und Studienvorbereitung in dem Maße mehr Praxisbezug verlangt, als die einzelnen Studiengänge praxisorientierter wurden.

III. Ganzheitliche Bildung und Grundwerte

III.1 Sozialdemokratische Grundwerte

In den letzten Jahren hat sich die SPD verstärkt um eine Neuformulierung ihrer Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität bemüht, die für alle Bereiche der Politik Handlungsmaßstab sind. Wie die Grundrechte der Verfassung sind auch die Grundwerte der SPD in der christlichen Ethik, im Humanismus, in der Aufklärung und in den sozialen Freiheitsbewegungen verwurzelt.
Sozialdemokraten verstehen unter Freiheit nicht nur individuelle Freizügigkeit, zum Beispiel bei der Wahl des Ausbildungsplatzes, der Wohnung, von Konsumgütern oder Reisezielen. Freiheit erschöpft sich nicht im Füllen eines Warenkorbes. Freiheit ist auch nicht einfach gleichbedeutend mit Unabhängigkeit oder Beliebigkeit. Abwesenheit von Zwang ist nur ein Teil von Freiheit. Freiheit bedeutet vielmehr individuelle Selbstbestimmung und gesellschaftliche Mitbestimmung. Freiheit schließt das Recht der Menschen ein, über alles mitzubestimmen, wovon ihr Leben abhängt, Freiheit verwirklicht die Würde der Menschen, die in ihrem Anspruch der Selbstverantwortung liegt. Politisch verlangt Freiheit nach Institutionalisierung der Formen der Demokratie, und zwar nicht nur bezogen auf die staatliche Willensbildung, sondern auf alle Bereich jeder Gesellschaft. Erst die Einheit von persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit, also von Selbstbestimmung und Mitbestimmung, ergibt Freiheit.

Freiheit in diesem Sinne bezeichnet eine allgemein den Menschen zukommende Möglichkeit, deren Verwirklichung mehr oder weniger gelingen kann, die aber dennoch für sein Leben bestimmend ist. Daher wird auch Bildung den Menschen nur in dem Maße gerecht, wie sie sich von der ,Dressur‘ durch eine ihr innewohnende Freiheit unterscheidet, die den Menschen hilft, sich nicht nur von äußeren Zwängen zu emanzipieren, sondern zugleich auch für selbstbestimmtes Handeln in ihren persönlichen und sozialen Verhältnissen zu befähigen. Bildung zur Freiheit setzt auch methodisch Freiheit voraus.

Freiheit und Gleichheit bilden einen unauflöslichen Zusammenhang. Gleichheit ist die Forderung nach gleicher Freiheit für jedermann. Gleichheit beinhaltet die Möglichkeit uneingeschränkter Teilhabe jedes einzelnen am materieIlen und geistigen Leben der Gesellschaft. Konservative behaupten gern, die Forderung nach Gleichheit führe zu Gleichmacherei. Aber dabei wird verkannt. daß die Menschen ihre allgemeinen gleichen Möglichkeiten in individuell unterschiedlicher Form verwirklichen. In dieser Unterschiedlichkeit bleibt die menschliche Gleichheit erhalten, die dem historisch entwickelten Bewußtsein von Freiheit und Gleichheit faktisch zugrunde liegt. Gleichheit soll den gleichen Anspruch eines jeden auf freie Selbstentfaltung verwirklichen. Sie fordert mehr „als nur gleiche Startchancen oder gar nur eine unbestimmte Chancengerechtigkeit. Es geht darum, die eklatanten Ungerechtigkeiten abzubauen und allen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu ermöglichen, ohne damit eine Gleichheit der Ergebnisse zu erzwingen. Das bedeutet zugleich eine Absage an alle, die eine Gleichförmigkeit des individuellen Lebens ohne Freiheit und Vielfalt bezwecken.“ (Grundwerte und Grundrechte) Wo keine Gleichheit herrscht, gibt es weder individuelle Selbstbestimmung noch gesellschaftliche Mitbestimmung. Muß ein Mensch Unrecht erdulden, so weist sich darin auch der Verlust seiner Freiheit.

Freiheit und Gleichheit können nur in einer Gesellschaft bestehen, in der die Menschen nicht gezwungen sind, ihre eigene Existenz in einem ruinösen und totalen Kampf aller gegen alle zu behaupten. Gegen dieses Prinzip, in dem der Mensch dem Menschen zum Wolf wird, steht der Grundwert der Solidarität. Der herrschenden und verschärften Ellenbogenmentalität wird der im Humanismus erneuerte christliche Wert der Brüderlichkeit entgegengesetzt. Solidarität bedeutet nicht nur Kooperation, gemeinsame Interessenwahrnehmung und füreinander Einstehen. Solidarität heißt auch Nächstenliebe und ein Bemühen um Handeln nach der Bergpredigt. Solidarität bewirkt Parteinahme und tätige Hilfe für die Benachteiligten. Als interessengeleitetes und humanes Miteinander schließt Solidarität die selbständige Leistung des einzelnen nicht aus. Für Sozialdemokraten bilden Solidarität und persönliche Leistung keinen Gegensatz. Vielmehr wird eine solidarische Gesellschaft als eine Gemeinschaft „freier, selbständiger Menschen“ verstanden. Konservative Kritiker rücken Solidarität mehr oder weniger in die Nähe von Leistungsverfall, weil sie sich Leistung anders als in der Form von Konkurrenz nicht vorstellen können. Für Sozialdemokraten erhält die Leistung erst Richtung und Sinn durch Solidarität. Solidarität erweist sich als gesellschaftliche Form. in der sich nicht nur die Leistung der Menschen entwickeln kann. Auch Gleichheit und Freiheit können nur in einer solidarischen Gesellschaft bestehen. Eine humane Gesellschaft wiederum kann weder auf Solidarität noch auf Gleichheit oder Freiheit verzichten.

Nur wenn die Verwirklichung der sozialdemokratischen Grundwerte, d.h. das Ringen um Sachalternativen mit dem politischen Gegner, im Geiste gegenseitiger Toleranz erfolgt - die im Andersdenkenden den Mitmenschen gleicher Würde achtet - und sich die Parteien in öffentlichen Auseinandersetzungen nicht um Scheinalternativen streiten, wird längerfristig eine tragfähige Grundlage für ein menschlich und politisch fruchtbares Zusammenleben bestehen bleiben.

Die Diskussion über den Bedeutungsgehalt und die Wirkungskraft von Grundwerten hat eine widersprüchliche Resonanz gefunden. Einerseits wird der praktische Zweck derartiger allgemeiner Begriffsdebatten bezweifelt und die Frage gestellt, ob eine Diskussion über Werte und Lebensqualitäten nicht eher von den eigentlichen Problemen der heutigen Zeit ablenkt: der globalen Gefährdung der Menschheit durch Krieg. Hunger und Umweltzerstörung. Andererseits sind es gerade diese Themen, mit denen die Wertediskussion engagiert vorangetrieben wird. Woran sollen sich Menschen orientieren - in einer Welt, die gleichermaßen gekennzeichnet ist durch Hunger und Nahrungsmittelvernichtung, durch Armut und Hochrüstung, durch Unterdrückung und Befreiungsbewegungen.

III.2 Menschenbild und Bildungsverständnis

Bildung ist persönliche Entwicklung und Veränderung. Je höher das Ziel dieser Veränderung gesteckt ist, desto schwerer wiegt die Realität, die es zu ändern gilt. Die Geschichte, die alltäglichen Erfahrungen und die Einsichten der Psychologie lehren, daß das Ziel humaner Bildung in der Tat ein hochgestecktes Ziel ist, das sich an der Realität vielfältig bricht.

Der demokratische Sozialismus verfällt nicht der Illusion, daß die Menschen notwendigerweise den Weg zunehmender Humanität nehmen, wenn nur das gesellschaftliche Umfeld die Voraussetzungen hierfür schüfe. Zum einen wäre dabei verkannt, daß eben dieses gesellschaftliche Umfeld menschliche Realität ist, die auch ihrerseits erst Ziel humaner Veränderung ist. Zum anderen würde jede Aussage über eine geschichtsunabhängige Natur der Menschen im wesentlichen spekulativ bleiben müssen und mit einer Vielzahl kontroverser wissenschaftlicher, philosophischer, weltanschaulicher und religiöser Deutungsversuche konkurrieren. Eine Bildungskonzeption. die für alle, die die Grundwerte des demokratischen Sozialismus oder die zentralen Wertentscheidungen des Grundgesetzes bejahen, überzeugend oder zumindest zumutbar sein will, kann nur von einem offenen, dabei an Selbstverwirklichung orientierten Menschenbild ausgehen.

Dies bedeutet, die große Spannweite menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens als Basis des Bildungsverständnisses zur Kenntnis zu nehmen. Der Streit, ob die Menschen gut oder böse, spontan hilfsbereit oder notwendig aggressiv seien, verkennt, daß die Menschen weder zum einen noch zum anderen programmiert sind, daß sie beide Seiten als Möglichkeiten in sich haben. Nur so läßt sich verstehen,

 daß apathische Gleichgültigkeit und Dumpfheit ebenso anzutreffen sind wie demokratische Wachsamkeit und Bereitschaft zum Engagement,

 daß Menschen sich bereitwillig tauschen und ausnutzen lassen, während andere von der Kraft des Verstandes Gebrauch machen,

 daß sich Menschen begeistert dem skrupellosen Machtwillen einzelner unterwerfen und andere den Willen und die Kraft zum Widerstand aufbringen,

 daß viele um kleiner Vorteile willen den Mitmenschen und den natürlichen Grundlagen des Lebens Schaden zufügen, während andere sich für die Folgen ihres Tuns verantwortlich fühlen.

Gerade aus dieser Spannweite, die eben auch beglückende und ermutigende Erfahrungen einschließt, ist die Hoffnung zu schöpfen, daß Veränderungen und Weiterentwicklung möglich ist. Zugleich wird deutlich, daß Bildung nicht zu kurz greifen darf, daß sie die prägenden Erlebnisse der frühen Kindheit ebenso berücksichtigen muß wie die schmerzlichen und ermutigenden Erfahrungen in späteren zwischenmenschlichen Beziehungen, im Arbeitsleben, jm Wohnbereich, in den materiellen Lebensumständen oder auch die globalen Erfahrungen der Bedrohung des Friedens und der Einmauerung des einzelnen in eine verwaltete Welt. Bildung geschieht also nicht nur in individuellen, sondern - innerhalb. und vor allem außerhalb des Bildungswesens - auch in kollektiven Lernprozessen, insbesondere beim Lernen in sozialen Bezügen und Konflikten, in Streiks ebenso wie in Protestbewegungen. im Öffentlich organisierten Bildungswesen verläuft deshalb nur ein Teil des Bildungsprozesses. Die öffentliche Erziehung muß sich ihrer Begrenzung bewußt bleiben, um sich nicht selbst zu überfordern. Sie hat insoweit auf die Verantwortlichkeiten hinzuweisen, die die übrigen Bereiche der Gesellschaft für eine humane Entwicklung der Menschen haben. Auch darin erweist sich Bildung als politische Herausforderung.

III.3 Zum Begriff der Allgemeinen Bildung

Im Prozeß der Bildung geht es stets um die Erschließung der Welt für die Menschen und um die Erschließung der Menschen für ihre Welt. Bildung vollzieht sich also, indem die Menschen ihre natürlichen Kräfte zur Selbstverwirklichung durch Aneignung ihrer Welt entwickeln. Selbstverwirklichung setzt Herrschaft der Menschen über die Bedingungen der eigenen Wirklichkeit voraus: Selbstbestimmung gegenüber der Natur, der Gesellschaft und der eigenen Person. Bildung bedeutet also Befähigung zu selbstbestimmtem, vernünftigem Handeln.

Gegen die Forderung nach einer in diesem Sinne humanen Bildung könnte zweierlei eingewendet werden. Erstens könnte die Forderung in dieser Allgemeinheit als eine Fiktion betrachtet werden. Man könne nämlich nicht von „den Menschen“, sondern nur von Individuen sprechen, die wesentlich durch ihre Zugehörigkeit zu Geschlecht, einer bestimmten sozialen Schicht, Klasse, Nationalität, Religion oder Kultur geprägt seien. Diese Auffassung übersieht aber zum einen, daß alle derartigen historischen und sozialen Besonderheiten der Menschen zugleich ein Bild des Menschen voraussetzen, das in seiner Allgemeinheit darüber hinausweist. Dies zu leugnen hätte die fatale Folge, daß die Menschen mit ihren konkreten Lebensbedingungen gleichgesetzt werden müßten - eine Auffassung, die ihnen letztlich auch jede individuelle Entwicklungsmöglichkeit abspräche. So hätte jeder „Schuster bei seinem Leisten“ zu bleiben, weil er ohne „Leisten“ kein Mensch mehr wäre. Zum anderen ist Bildung als Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln gerade auf die Veränderung der Lebensbedingungen im Sinne der Überwindung aller Verhältnisse gerichtet, die die Menschen ausbeuten, unterdrücken und ihre menschlichen Potenzen einschränken, und nicht darauf, diese Verhältnisse zu verewigen.

Zweitens könnte gegen den allgemeinen Begriff einer humanen Bildung eingewendet werden, daß in ihm das aktualisierte Bewußtsein über die besondere Situation der Frauen nicht beachtet werde. Dabei geht es um zweierlei: Zum einen um das Thema der Diskriminierung von Frauen. In der Tat sollte der statistisch-quantitativ nachweisbare Abbau der geschlechtsspezifischen Chancenungleichheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß Frauen im Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem und im Schul- und Hochschulsystem offenkundig diskriminiert werden. Aber die Feststellung einer solchen geschlechtsspezifischen Ungleichheit setzt ihrerseits als gemeinsamen Bezugspunkt einen Bildungsbegriff voraus, der alle Menschen umfaßt.

Zum anderen geht es um das Thema der spezifischen Interessen von Frauen in Bildung und Gesellschaft. In der Tat muß - unter den gegebenen Verhältnissen - das Interesse von Frauen an Bildung ein teilweise anderes Sein als das der Männer; insofern erfordert eine frauenspezifische Betrachtungsweise über das Thema Diskriminierung hinaus zumindest ergänzende Überlegungen über einen allgemeinen Bildungsbegriff für Frauen. Eine solche Ergänzung, die allerdings derzeit nur auf wenige neuere Diskussionsansätze Bezug nehmen könnte, kann hier (noch) nicht geleistet werden. Immerhin bleibt auch in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß sich das Spezifische eines solchen Bildungsbegriffs nur beschreiben ließe, wenn ein allgemeiner Begriff der Menschenbildung überhaupt erst einmal formuliert worden wäre. Dies ist die Aufgabe der folgenden Ausführungen.

Vor dem Hintergrund der Wechselbeziehungen von Mensch und Welt stellt sich Bildung als ein Prozeß der Vermittlung zwischen den inneren Bedingungen der Menschen und den äußeren gesellschaftlichen Lebensbedingungen dar, der in eine individuelle Ganzheit persönlicher Fähigkeiten mündet. Die gesellschaftlichen Inhalte der Bildung ergeben sich aus dem Verhältnis der Menschen zur Natur, zur Gesellschaft und ihrer Geschichte sowie aus dem Verhältnis zu den geistig-ästhetischen Werken der Menschheit (dazu III.3.1). Die subjektiven Bestimmungen der Bildung bestehen aus Bedürfnissen und Gefühlen, aus Denken, Wollen und Handeln (dazu III.3.2). Menschen bilden sich in dem Maße, wie es allen gelingt. sich diese Inhalte als Ganzheit allseitig anzueignen (dazu III.3.3).

III.3.1 Objektive Inhalte der Bildung

Der einzelne vermag sich nur durch Aneignung seiner objektiven Lebensbedingungen - im Rahmen seiner objektiven Lebensbedingungen - im Rahmen seiner individuellen Voraussetzungen - zu bilden. Er kann sich als Mensch weder frei von seiner natürlichen noch von seiner gesellschaftlichen Umwelt verwirklichen. Denn er lebt nicht losgelöst von den jeweiligen wirtschaftlich-sozialen, den politischen und den geistig-ästhetischen Verhältnissen seiner Zeit. Diese ergeben einen komplexen Wirkungszusammenhang, dessen Anforderungen und Herausforderungen die Inhalte der Bildung bestimmen.

Da die Gesamtheit dieser Verhältnisse auf das Leben wirkt, können die Menschen sich zu selbstbestimmtem Handeln auch nur durch Aneignung dieser Gesamtheit befähigen: Menschen benötigen eine Allgemeinbildung. Allgemeine Bildung, die alle Menschen durch Aneignung aller gegenwarts- und zukunftsbedeutsamen Handlungsbedingungen gleichermaßen zu individuell allseitiger Teilhabe an der wirtschaftlichen, politischen und geistigen Praxis ihrer Gesellschaft befähigen soll, darf nicht länger die Dimension des Berufs und der praktischen Arbeit separieren oder gar eliminieren, die für den Bildungsprozeß im ganzen. von fundamentaler Bedeutung ist. Nur eine Bildung, deren Inhalt sich auf alle für unsere Zeit wesentlichen objektiven Bereiche und subjektiven Zwecke menschlichen Lebens einschließlich der Berufstätigkeit erstreckt, kann heute noch „allgemein“ genannt werden.

Für eine solche Integration allgemeiner und beruflicher Bildung ist die Idee polytechnischer Bildung und Erziehung ein Orientierungspunkt; die Erfahrungen, die mit derartigen Programmen in West und Ost gemacht worden sind, bedürfen einer wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung.

Tendenzen zur Überwindung des Gegensatzes von Allgemein- und Berufsbildung werden durch die Hereinnahme berufsbezogener Inhalte in allgemeinbildende Schulen bereits sichtbar. Auf der anderen Seite sieht sich die Berufsbildung vor allem in Bereichen mit hoher technischer Innovationsrate genötigt, ihren allgemeinbildenden Qualifikationsanteil ständig auszuweiten. Denn die gesellschaftliche Praxis auf allen Gebieten zeichnet sich durch wachsende Komplexität aus, so daß selbstbestimmtes Handeln auch im Detail mehr von der Einsicht in die Bedingungen letztlich des Ganzen abhängt. Daher benötigen wir künftig ein steigendes Allgemeinbildungsniveau ebenso wie eine weitere Zunahme spezialisierter beruflicher Fähigkeiten, zu deren Entwicklung der Lernort „Betrieb“ - für alle Bildungsgänge - unverzichtbar ist.

Der Gesamtzusammenhang der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, auf den sich Allgemeinbildung bezieht, läßt sich wie folgt gliedern:

III.3.1.1 Wirtschaftliche Bildung

Zu den wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen gehören allgemein folgende Inhaltsbereiche:

 Die Arbeitsgegenstände:
Das sind Gegenstände der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion; z.B. Boden in unterschiedlichen Nutzungsformen. Nutzpflanzen und -tiere. Bodenschätze, Energieformen, Werkstoffe. Zu den Bildungsinhalten werden Arbeitsgegenstände in dreifacher Hinsicht:

— als Wissen über Aufbau und Bedeutung ein­zelner Gegenstände sowie ihre gegenseitige Abhängigkeit. insbesondere über die Bezie­hung Land-Stadt oder Industrie-Energie-Um­welt;
— als Können; das heißt als Fähigkeit des praktischen Umgangs mit Arbeitsgegenständen, z.B. Feldarbeit, Tierhaltung, Verarbeitung verschiedener Werkstoffe;
— emotional als Achtung vor der Natur, dem Leben und der Arbeit.

 Die materiellen und geistigen Arbeitsmittel:
Das sind Werkzeuge, Technik, Produktionsplanung und -organisation. Von besonderer Bedeutung sind heute die modernen Technologien. Durch den Einsatz von Computern und Industrierobotern, vor allem durch Rationalisierungen im Werkzeugmaschinenbau, ändert sich nicht nur der Produktionsprozeß, sondern es ändern sich die Produktions- und Dienstleistungsbetriebe insgesamt. Es entstehen mit rechnerintegrierten, flexibel automatisierten Maschinen und Geräten neue Arbeits- und Verwaltungsabläufe. Aus dieser Entwicklung gehen veränderte Anforderungsstrukturen für die gegenwärtig und zukünftig Beschäftigten hervor.

Daraus kann geschlossen werden, daß sowohl eine Vermittlung neuer technologischer Kenntnisse und Fertigkeiten in immer kürzeren Zeitabständen an die dort Tätigen erforderlich ist als auch die Aufnahme entsprechender Inhalte in das vorherrschende Verständnis schulischer und außerschulischer Bildung. Bestimmte Personengruppen geraten in Gefahr, einer neu entstehenden „Produktionsintelligenz“ nicht mehr oder nur unzureichend entsprechen zu können. Angesichts der raschen Entwicklung moderner Technologien können die Inhalte technischer Bildung nicht nur aus der vorherrschenden Produktion allein, sondern wesentlich aus der in der Entwicklung befindlichen und die Produktions- und Arbeitsprozesse von morgen bestimmenden Technik einschließlich ihrer sozialen und humanen Dimensionen abgeleitet werden.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, der technischen Bildung im Rahmen von Allgemeinbildung größere Bedeutung beizumessen. Das darf jedoch nicht dahingehend mißverstanden werden, die Grundlagen der Allgemeinbildung auf technische Bildung zu reduzieren.

Zu Bildungsinhalten werden die Arbeitsmittel

— als Wissen über deren Aufbau, Funktion und mögliche zerstörerische Folgen für die Natur und das Zusammenleben der Menschen.
— Das ist eine notwendige Grundlage für das Können, nämlich die verantwortungsbewußte, individuelle und soziale Herrschaft der Menschen über die Arbeitsmittel.
— Diese drückt sich emotional z.B. in Freude und Stolz über die darin erscheinende Selbstverwirklichung aus.

 Die Arbeitsverhältnisse:
Das sind vor allem die wirtschaftlichen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, die Ober Selbständigkeit oder Abhängigkeit der Arbeit der Menschen entscheiden. In unserer Gesellschaft werden die Arbeitsverhältnisse zu Bildungsinhalten

— als Wissen über Notwendigkeit und Möglichkeit der Mitbestimmung, der Humanisierung der Arbeit, der Verhinderung von Arbeitslosigkeit, der Erhöhung des Anteils der Arbeitenden am wirtschaftlichen Reichtum und einer vernünftigen Planung des Wirtschaftslebens. Zu diesem Wissen gehört die Einsicht, daß die Menschen auch ökonomisch nicht auf ihre Arbeitskraft reduziert werden können.
— Obwohl für das Können, also das Handeln des einzelnen, sein Wissen über die Arbeitsverhältnisse von grundlegender Bedeutung ist, bedarf es auch der praktischen Erfahrung mit den Arbeitsverhältnissen, in denen sich sein Gefühl für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bilden kann.

„Die Arbeiterbewegung bleibt ihrem Ursprung treu, wenn sie die Ökologische Kritik an gravierenden, dem westlichen und dem Östlichen Wirtschaftssystem gemeinsamen Fehlentwicklungen ernst nimmt. Diese Kritik gibt uns Hinweise darauf, wie der Weg zu einer humaneren und Ökologisch vernünftigen Wirtschaftsordnung und Technik gefunden werden kann.“ (Die Arbeiterbewegung und der Wandel..., 5. 29) Dabei gilt es, „die Beziehungen zwischen Mensch und Natur an der Einsicht zu korrigieren, daß Menschen selbst ein Teil der Natur sind und nur in einer - sich ständig regenerierenden - Natur existieren können.“ (a.a.O., S. 24) Deshalb begründen die Anforderungen der Ökologie einen übergreifenden Bildungsinhalt.

Zusammenfassend gehören zu den elementaren Aufgaben wirtschaftlicher Bildung also:

 handwerkliche Grundfähigkeiten zur Bewältigung von Anforderungen in persönlichen Lebensbereichen (z.B. Wohnung; Ernährung; Textilien; Geräte: Garten; Fahrzeuge),
 ökologische Grundkenntnisse und -fähigkeiten (z.B. Haushalts- und Lebensmittelchemie; Mode und Ernährung; Tier- bzw. Pflanzenschutz, umweltbewußtes Verhalten gegenüber Boden, Luft und Wasser),
 ökonomische Grundkenntnisse (z.B. Volks- und Betriebswirtschaft; Verhältnis von Produktion Distribution und Konsumtion; Arbeitswerttheorie; Industrie- und Agrarproduktion),
 berufliche Grundfähigkeiten (z.B. Kenntnisse und Fertigkeiten in den Bereichen Boden. Holz, Metall, Chemie. Energie, Verwaltung und Dienstleistung),
 Verbindung von Allgemeinbildung und elementarer Berufsausbildung auch im Rahmen allgemeinbildender Schule (z.B. von der Hinführung zu elementaren Arbeitstätigkeiten über die polytechnische Erziehung zu exemplarischer Berufsausbildung/Kollegstufe und Lernort Betrieb).

Wirtschaftliche Bildung kann allerdings erst im Zusammenhang mit dem politisch-sozialen, dem körperlichen und dem ästhetischen Bildungsbereich sowie dem entsprechenden Fachunterricht zu einem Bestandteil allseitiger Bildung werden.

III.3.1.2 Politisch-soziale Bildung

Zu den gesellschaftlichen Inhaltsbereichen der Bildung gehören neben den wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen auch die politischen Inhalte und Organisationsformen der Gesellschaft.

 Geschichte
Die politischen Verhältnisse und die aus ihnen entspringenden Anforderungen und Herausforderungen für die Menschen repräsentieren wichtige Bildungsinhalte. Sie lassen sich nicht auf Daten, Regierungsformen oder Staatsbürgerkunde beschränken, Diese Bildungsinhalte schließen auch die für das politische Leben grundlegende Gesellschaftlichkeit der Menschen ein. Sie enthalten damit auch das Problem seiner natürlichen und sozialen Evolution und die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Ohne historisches Verständnis der politischen Wirklichkeit wird sonst aus der notwendigen Kritik gesellschaftlicher Mangel eine oft resignative Verneinung politischer Verantwortung. Oder es entsteht aus der erforderlichen Identifikation mit dem politischen Fortschritt und den in ihm liegenden Entwicklungsmöglichkeiten blinde Bejahung. Ohne Einsicht in die Geschichtlichkeit und gesellschaftliche Bedingtheit der eigenen Persönlichkeit gerät der einzelne in die Gefahr, sich selbst absolut zu setzen und die Grundlagen seiner Selbstverwirklichung zu verkennen.

 Mitbestimmung
Bildung ist auf Selbstverwirklichung in der Gesellschaft gerichtet. Deshalb ist politische Bildung besonders auch die Befähigung zu selbstbestimmter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ihre Inhalte müssen sich auf folgende politische Bereiche konzentrieren:

 auf den Widerspruch zwischen realer Demokratie und autoritärem Obrigkeitsstaat, gleich in welchem Gewande;
 auf die Überwindung von Kolonialismus und Neokolonialismus
 Auf Zusammenschlüsse von staatlichen Gebilden auf regionaler Ebene bis hin zur Entwicklung einer Weltgesellschaft. in der die Menschen ihren Planeten Erde gemeinschaftlich und solidarisch gestalten:
 auf die Herstellung und Sicherung des Friedens als Voraussetzung menschlichen Lebens in allen Teilen der Welt, wobei der rationale Umgang unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme untereinander Grundbedingung für den Erhalt des Friedens ist.

Auch politische Bildung erschöpft sich nicht im Wissenserwerb. Sie ist der Heranbildung einer praktischen Handlungsfähigkeit ebenso verpflichtet wie der Entwicklung emotionaler Qualitäten, wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, Verantwortungsbewußtsein, Selbstwertgefühl und Verbundenheit mit seiner Heimat als „Heimstatt freier Menschen“.

In diesem Zusammenhang ist die Stärkung sozialen Lernens „eine der Voraussetzungen einer Erziehung zur Solidarität (im Sinne der Zurückstellung von Einzelinteressen zugunsten der freien Entfaltung aller, im Sinne auch der Parteinahme für Benachteiligte) und zum Willen auf Abbau von Fremdbestimmung innerhalb komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Diese Vorstellung hat ihre lange sozialdemokratische Tradition und steht auch hinter dem Bemühen einer stärkeren Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung ...“. („Wege zur menschlichen Schule ...“, Beschluß der Arbeitsgemeinschaft für Sozialdemokraten im Bildungsbereich, AfB, März 1979, S. 15)

Wenn wir vor diesem Hintergrund versuchen, die heute wichtigen Aufgaben politischer Bildung zusammenzustellen, so ergibt sich folgendes:

 Kenntnis und Entwicklung demokratischer Ver­haltensweisen (z.B. Beziehungen zwischen Schüler und Mitschülern, Lehrern, Eltern; Mitbestimmung in Gruppen, Vereinen, Gewerkschaften, politischen Parteien, Bürgerinitiativen),

 Kenntnis demokratischer Institutionen und Mitbestimmungsmöglichkeiten (z.B. Strukturen parlamentarischer und direkt demokratischer Institutionen bzw. Bewegungen; parlamentarische Demokratie und autoritärer Obrigkeitsstaat; Bürokratie und technische Kontrolle; soziale Bewegungen und wirtschaftliche Interessen),

 Kenntnis der Möglichkeiten und Befähigung zu selbstbestimmter und gleichberechtigter Teilhabe an gesellschaftlicher Mitbestimmung (z.B. in Schule und Familie; im persönlichen Umfeld: in Politik, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen),

 Kenntnis der Möglichkeiten und Befähigung zu rationaler und humaner Konfliktlösung durch Friedenserziehung (z.B. wirtschaftliche und politische Ursachen von Kriegen: Kolonialismus. Rassismus, weltanschaulicher Fanatismus als Konfliktherde; individuelle Bedingungen von Kriegsbereitschaft; Verhältnis von Frieden und Freiheit: Friede und Weltgesellschaft: Friedenserziehung und Friedensbewegung),

Kenntnis und Befähigung zu kritischem Umgang mit sozialen Normen und Verhaltensregeln in gesellschaftlichen. zwischenmenschlichen und persönlichen Bereichen, in Beruf und Politik, in der Freizeit und gegenüber Medien sowie im Verkehr und auf Reisen.

Von aktueller Bedeutung ist besonders die Integration der ausländischen Mitbürger. Dazu bedarf es über den Bereich sozialer Bildung hinaus der Entwicklung von Bildungsinhalten. die auf dem Gedanken „interkultureller Erziehung“ basieren. Die Möglichkeit einer pädagogischen Integration gründet zunächst in der Tatsache, daß die Kulturen aller Völker - unabhängig von ihren historischen Besonderheiten - als Entwicklungsformen menschlicher Natur ihrem allgemeinen Wesen nach identisch sind. Darüber hinaus gibt es deutliche Anzeichen für die Entwicklung einer weltweiten und wirklichen „kulturellen Identität“. Aus dieser Perspektive wird es möglich, in den Unterschieden zwischen den einzelnen Kulturen ihre Gemeinsamkeiten zu begreifen, um. auf dieser Grundlage einerseits die Bewahrung der jeweiligen kulturellen Identität zu gewährleisten, andererseits ein wechselseitiges Verständnis und damit die Aneignung zu ermöglichen. Auf diesem Wege wäre es denkbar, den Widerspruch zwischen Veränderung und Wahrung der Identität pädagogisch aufzuheben. Ein integrativer Unterricht nach diesem Verständnis setzt die „interkulturelle“ Reflexion der Unterrichtsinhalte sowie differenzierende Unterrichtsmethoden voraus, um insbesondere ausländischen Schülern einen derartigen interkulturellen Vergleich und die Aneignung seiner Ergebnisse zu erleichtern.

III.3.1.3 Geistig-ästhetische Bildung

Die wirtschaftlich-sozialen und politischen Verhältnisse erscheinen den Menschen als reale, materielle Gegebenheiten und spiegeln diese auch in Gestalt besonderer Bewußtseinsinhalte und entsprechender künstlerischer und ästhetischer Umgestaltungen wider. Deshalb stehen aus diesem Bereich hervorragende Bildungsinhalte. z.B. Wissenschaften, weltanschauliche Richtungen. Künste traditionell im Mittelpunkt des Schulunterrichts.
Ein Bildungsverständnis, das gegenwärtigen und zukünftigen humanen Anforderungen an Person und Gesellschaft entsprechen will. verlangt auch die Einbeziehung geistig-ästhetischer Inhalte:

 Wissenschaft
Zu Bildungsinhalten werden Wissenschaften wegen ihrer Anleitung zu systematischer Reflexion und wegen ihrer zumindest indirekten Möglichkeiten einer Handlungsorientierung. Sie spielen auch im Zusammenhang der wirtschaftlichen und politisch-sozialen Bildung eine wichtige Rolle. Aus der Bildungsaufgabe der Wissenschaft folgt, ihre Vermittlung weder einzelwissenschaftlicher Spezialisierung noch deren Systematik unterzuordnen. Statt dessen ist - entsprechend der ganzheitlichen Beziehung der Menschen zur Wert - vom Zusammenhang der Wissenschaften auszugehen, insbesondere auch der Natur- und Gesellschaftswissenschaften, auch wenn dieser Gesichtspunkt nicht gegenüber herkömmlichem Fachunterricht verabsolutiert werden darf. Die soziale Verträglichkeit von Wissenschaft und Technik und ihrer Forschungs- und Produktionsergebnisse muß deutlich betont werden.

 Weltanschauung
Ihre handlungsorientierende Funktion erfüllt Wissenschaft stets im Rahmen von Interessen, wie sie aus der gesellschaftlichen Praxis hervorgehen. Wissenschaft allein vermag also humanes Leben nicht hinreichend zu begründen.
Die Interessen der Menschen drücken sich allgemein in religiösen, philosophischen oder weltanschaulichen Vorstellungen aus. Diese bestimmen sinngebend und wertorientierend das individuelle und gesellschaftliche Leben. Auch die sozialdemokratischen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind weltanschauliche Verallgemeinerungen der gesellschaftlichen Interessen von Menschen. Sie zielen - den Möglichkeiten unserer Zeit folgend - auf eine sozialistische Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Deshalb gehören zu den Bildungsinhalten des geistig-ästhetischen Bereiches alle jene religiösen, philosophischen und geistigen Strömungen, die zur Humanität beitragen.

 

Ästhetik

Bildung ist stets auch die Fähigkeit des Menschen, sein Verhältnis zur Welt und zu sich selbst harmonisch zu entwickeln. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann dies allerdings nur in widersprüchlicher Form geschehen. Dennoch besteht das Ziel jeder Bildung in der Ermöglichung harmonischer Beziehungen als Anspruch menschlicher Vernunft, ein Prozeß, der nicht mit Widerspruchsfreiheit gleichzusetzen ist. Das Bedürfnis nach tätiger Harmonie eilt dem Handeln voraus. Es bleibt aber auch dann bestehen, wenn es sich noch nicht realisieren kann oder wenn die Menschen an ihren inneren oder äußeren Widersprüchen scheitern. Aus beidem folgt die Notwendigkeit schöpferischer Verarbeitung in den Formen ästhetischer Phantasie: Das Ästhetische ist kein Getto, das die Menschen für gesellschaftliche Versagungen entschädigen müßte. Im ästhetischen Handeln gelangt die Kraft der Menschen zum Ausdruck, die Grenzen ihrer Gegenwart zu übersteigen und ihrer täglichen Praxis in Richtung humaner Selbstverwirklichung voranzuschreiten. Dazu bedarf es einer ästhetischen Bildung durch Aneignung von Kunst, Musik, Literatur, Theater und anderen künstlerischen Gegenständen. In den Werken der Kunst finden die Menschen die eigene Vergangenheit, ihre Wirklichkeit und die Möglichkeit der Zukunft sinnlich vergegenwärtigt. Menschen, denen diese ästhetische Lebensdimension verschlossen bleibt, können sich in unserer Zeit kaum als Persönlichkeiten bilden, die mit sich selbst und der Welt im reinen sind. Besonders personale Grundprobleme - wie Leben und Tod, Liebe und Haß, Alter, Krankheit oder Einsamkeit - markieren Bildungsausgaben. zu deren Bewältigung ästhetische Bildung beitragen kann. ihr Bildungswert steigt, wenn sie sich nicht auf passive Formen beschränkt: Einsicht und Genuß des Ästhetischen müssen sich immer auch schöpferisch äußern. In der ästhetischen Bildung verbinden sich so Anschauung und Gestaltung, Lesen und Schreiben, Hören und Spielen, Leben und Erleben.

Die Gesamtheit dieser objektiven Bildungsmomente ergibt die Grundlage zur Auswahl allgemeiner Bildungsinhalte, die jedoch erst durch ihre Integration gemäß den individuellen Erfordernissen des Bildungsprozesses zu elementaren Bildungsinhalten werden können.

Durch Aneignung dieser Inhalte vermag sich der einzelne des gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhangs seines Handelns bewußt zu werden. Der subjektive Handlungssinn erschließt sich ihm jedoch immer nur aus der persönlichen Verarbeitung der objektiven Handlungsbedeutung durch seine inneren subjektiven Bildungsbedingungen.

III.3.2 Subjektive Elemente des Bildungsprozesses

Die subjektive Seite des Bildungsprozesses zu berücksichtigen heißt zunächst, von den Bedürfnissen der Menschen auszugehen. Die Menschen müssen das, was sie sind, im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung erst werden. Ebenso müssen auch ihre Bedürfnisse erst gebildet werden, indem sie sich mit solchen Inhalten und Formen des Handelns verbinden, die selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Wegen ihrer Bedeutung wird die Neigung vieler Pädagogen verständlich, die Bedürfnisse von Schülern gegenüber den brüchig gewordenen gesellschaftlichen Leitbildern zu verabsolutieren.

Mit den Bedürfnissen sind es zugleich die Gefühle, die das Handeln leiten. Gefühle sind Anzeiger der Bedürfnisbefriedigung. Sie spiegeln das subjektive Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt wider Freude oder Leid, Lust oder Unlust, Liebe oder Haß. Auch dieser emotionalen Dimension des Seins wird im Bewußtsein vieler Menschen größeres Gewicht beigemessen: „Zu den neuen Verhaltensweisen, von denen wir für unsere sozialen Beziehungen lernen können, gehören auch Versuche, ein weniger entfremdetes, weniger gestörtes Verhältnis zur sinnlichen Natur des Menschen, zu seinem Körper und zu seinen Gefühlen zu finden.“ (Die Arbeiterbewegung und der Wandel gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens, 1982, S. 20) Die Gefühle bedürfen deshalb hinsichtlich ihrer individuellen Form und ihrer sozialen Funktion einer Bildung; diese wird - in der Tradition Pestalozzis - Herzensbildung genannt. Herzensbildung meint die Fähigkeit zu einem humanen emotionalen Umgang mit sich selbst, den Menschen und der Welt. Dann werden die Menschen in die Lage versetzt, ihre inneren Widersprüche bewußt zu verarbeiten, statt von ihnen wie von einer fremden Macht beherrscht zu werden.

Die emotionale Bewältigung personaler Grundprobleme. zu denen Leben und Tod. Alter. Krankheit. Trennung, Freundschaft. Erotik oder Zärtlichkeit gehören, wird so zu einem eigenen Bildungsziel. Dabei ist es nicht möglich, derartige Probleme nur an literarischen Gegenständen zu erarbeiten. obwohl dieser Weg in keiner Weise abgewertet werden soll. Emotionale Bildung stellt in erster Linie eine praktische Aufgabe dar. Sie erfolgt in der Aufnahme und Veränderung des Verhaltens der Schüler miteinander, in ihrem Verhältnis zu den Lehrern, der Gestaltung des Schulklimas. zu dem auch die Eltern beitragen. aber nicht zuletzt in tätigen Beziehungen der Schule zu anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen.

Angesichts der Bedeutung der Motive und Gefühle kann sich Bildung bei der Entwicklung geistiger Fähigkeiten nicht darauf beschränken, Wissenselemente über die Umwelt anzueignen. Kognitive Bildung umgreift auch die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Eine solche Bildung ermöglicht es den Menschen. in sich selbst - zumindest tendenziell - zu einem Ganzen zu werden. Gerade heute, wo so viele Menschen unter dem Gefühl ‚innerer Zerrissenheit' leiden, kann Bildung über die Befähigung zu realitätsgerechtem Handeln hinaus für den einzelnen eine nicht zu unterschätzende kompensatorische Bedeutung erlangen.

Kognitive Bildung ist auf dieser Grundlage notwendige Voraussetzung für selbst bestimmtes Handeln. Die zusätzliche Betonung der Motive und Gefühle für den Bildungsprozeß darf jedoch nicht zu neuer Einseitigkeit führen. in der nun die kognitive Seite der Bildung abgewertet wird. Denn für die Selbstverwirklichung der Menschen stellt Wissen eine Macht dar. Ohne umfassendes Aneignen von Wissen kann von Bildung nicht gesprochen werden.

Bildung bedarf der Entwicklung der körperlichen Fähigkeiten: - so, wie dem Greifen das Begreifen folgt. Handeln verbindet die Menschen mit der Welt. Deshalb stellen die körperlichen Fähigkeiten Ausgangspunkt, Bedingung und Ergebnis der Bildung dar. Körperliche Bildung und Fähigkeit eines praktischen Umgangs mit der Welt sind zentrale Bestandteile des Bildungsprozesses. Wegen der Bedeutung des eigenen Körpers und seiner Gefährdungen schließt Bildung dessen Pflege und Gesunderhaltung ein; hierzu gehört auch der Sport.

Das Vermögen zu praktischem Handeln ist mehr als nur eine der individuellen Bestimmungen der Bildung. Im Können erst erscheinen Wollen. Fühlen -und Wissen als reale Einheit. Diese Allseitigkeit ist in den Menschen angelegt. Sie entspricht der von Pestalozzi geforderten Organisation des Bildungsprozesses als Einheit von „Kopf, Herz und Hand“. Bildung setzt dabei methodisch am Entwicklungsniveau jener körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie der Willens- und Gefühlskräfte der Menschen an, die bereits selbstbestimmtes Handeln ermöglichen. In diesem Sinne hat der Unterricht immer vom Schüler auszugehen. Die in jüngster Zeit diskutierten Alternativen. etwa Mut zur Erziehung oder Pädagogik des ‚Frei-Walten-Lassen' stellen sich in dieser Sicht als Scheinprobleme dar. Eine Erziehung, die nicht bei den Möglichkeiten und Problemen des Schülers ansetzt, verfehlt ihren Auftrag, Bildung zu ermöglichen. Andererseits versäumt eine Erziehung, die sich auf Anpassung an die Schüler reduziert, ebenfalls ihren Auftrag; denn Bildung heißt immer Entwicklung der Fähigkeiten. Dabei sollen die jungen Menschen behutsam zu sich selbst geführt und ihnen zu einem inneren Gleichgewicht verholfen werden: und ihnen sollen die anderen Menschen als Aufgabe und Mittel ihrer eigenen Lebensgestaltung begreiflich gemacht werden.

Nach alledem kann die Aneignung von Unterrichtsinhalten allein ein demokratisches Bildungswesen nicht angemessen charakterisieren. Zwar wird Bildung ihrer objektiven Bedeutung nach durch Inhalte definiert, ihr subjektiver Sinn erschließt sich für den einzelnen jedoch erst durch ihre Übereinstimmung mit seinen inneren Bedingungen, d.h. mit seinen Motiven und Emotionen, seinem Denken sowie seinen körperlichen Handlungsfähigkeiten. Deshalb kann sich der Unterricht nicht nur an der Struktur der Inhalte orientieren, wodurch zugleich eine Grenze der Wissenschaftsorientierung bezeichnet ist. Andererseits ist die Übereinstimmung mit dem Niveau der jeweiligen Wissenschaften konstitutiv für ein demokratisches Bildungs- und Unterrichtsverständnis. Die Bedingung bildender Vermittlung und Aneignung besteht in der dialektischen Integration jeweiliger inhaltlicher Strukturen mit den subjektiven Bildungsformen. Durch Aneignung der Bildungsinhalte verändert der einzelne seine subjektiven Handlungsbedingungen. während er zugleich - gemäß diesen Bedingungen - jene Inhalte sich produktiv zu eigen macht, sie also persönlich umgestaltet. In diesem, und nur in diesem Sinne ist Bildung auch immer Werk des einzelnen.

Konsequenzen dieser methodischen Bedingungen sind:
 Einheit von rezeptivem und selbsttätigem Lernen (gegen die Verabsolutierung sowohl des Frontal- als auch des Gruppenunterrichts),
 Aufhebung des Widerspruchs zwischen Motivation und Bildungserfordernis (gegen bloßes Gewährenlassen und bildungsfremde Disziplin),
 gegenständliche Vermittlung der rationalen und emotionalen Bildungsdimensionen (gegen die Zerteilung des Unterrichts in Verstand und Gefühl),
 Überwindung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Bildung (gegen die Formen der ‚Sitz- und Paukschule').

Die objektiven und subjektiven Bildungsmomente bzw. -dimensionen sind auch in ihrem dialektischen Zusammenhang noch nicht mit konkreten Bildungszielen, -inhalten oder -methoden gleichzusetzen. Denn ihre allgemeine Struktur existiert real nur in gesellschaftlich und individuell begründeter Einmaligkeit des Bildungsprozesses. Um von den allgemeinen Bildungsdimensionen zu besonderen Bildungsinhalten zu gelangen, bedarf es der Interpretation ihrer objektiven Bedeutung und ihres subjektiven Sinnes aus der Perspektive der Einmaligkeit des Bildungsprozesses.

Diese Interpretationsaufgabe kann und darf dem Lehrer durch kein Curriculum abgenommen werden. Dieses Bildungsverständnis fungiert somit als theoretische Hilfestellung für die Ermittlung elementarer Ziele, Inhalte und Methoden, ohne dabei den falschen Schein eines Rezepts zu erwecken.

IV. Bildungspolitik in den neunziger Jahren

Die Frage, welcher Begriff von Bildung und welches Menschenbild einer sozialdemokratischen Bildungspolitik zugrunde liegen, kann sinnvoll nur vor dem Hintergrund der geistes- und sozialgeschichtlichen Erfahrungen diskutiert werden, die die SPD als Teil der sozialen und Freiheitsbewegungen Deutschlands gesammelt und in den Grundwerten Freiheit Gleichheit und Solidarität in Worte gefaßt hat. Dem entspricht ein Menschenbild, das offen und an Selbstverwirklichung orientiert ist und das die große Spannweite menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens und die große Variationsbreite menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten einbezieht. Daraus ergibt sich ein Bildungsbegriff, der insofern „allgemein“ ist, als er die allseitige Entfaltung aller humanen Fähigkeiten aller Menschen umfaßt. In der gebräuchlichen Gegenüberstellung von allgemeiner und beruflicher Bildung wird dieser Begriff im allgemeinen nicht beachtet. So lassen sich auch in der Berufsausbildung „allgemeine“ Bildungselemente erkennen, und so bleibt die „allgemeinbildende“ Schule insofern partiell, als sie den ganzen Bereich der beruflichen Bildung ausklammert.

Im sozialdemokratischen Verständnis von Bildung lassen sich mindestens fünf Dimensionen einer in diesem Sinne allgemeinen humanen Bildung erkennen:

  1. Bildung bezieht sich auf alle Menschen - ohne Diskriminierung nach Herkunft, Religion oder Geschlecht.
  1. Bildung bezieht sich - gegenständlich - nicht nur auf den geistig-ästhetischen Bereich, sondern auch auf den wirtschaftlich-technischen und den politisch-sozialen Bereich.
  1. Bildung bezieht sich nicht nur auf die geistigen Fähigkeiten, sondern auch auf die Entfaltung der Bedürfnisse, Gefühle und körperlichen Fähigkeiten.
  1. Bildung bezieht sich nicht auf das Erlernen theoretischer Kenntnisse. sondern auch auf das Erproben praktischer Fertigkeiten und konkreter Tätigkeiten.
  1. Bildung bezieht sich auf ein integrales Verständnis von beruflich-praktischer und schulisch-allgemeiner Bildung, in dem eine Bildung ohne Berufsausbildung nicht mehr als allgemein betrachtet werden kann.

Wir Sozialdemokraten können uns Bildung ohne Solidarität nicht vorstellen. Nicht zuletzt daraus resultiert die bildungspolitische Forderung nach Einheitlichkeit und Differenzierung auf allen Stufen sowie hinsichtlich aller inhaltlichen Dimensionen des Bildungsprozesses, eine Forderung, die sich für den Bereich schulischer Bildung in der integrierten und differenzierten Gesamtschule konkretisiert.

Diese Ziele gilt es beharrlich weiterzuverfolgen. Die SPD forderte schon im Godesberger Programm 1959: „Erziehung und Bildung sollen allen Menschen die Möglichkeit gegeben, ihre Anlagen und Fähigkeiten unbehindert zu entfalten.
Die Jugend ist in den Schulen und Hochschulen gemeinsam im Geiste gegenseitiger Achtung zur Freiheit, zur Selbständigkeit, zum sozialen Verantwortungsbewußtsein und für die Ideale der Demokratie und der Völkerverständigung zu erziehen.
Organisation des Schulwesens und Lehrpläne müssen so gestaltet werden, daß sich alle Begabungen auf allen Stufen der Entwicklung entfalten können.“

Bildungspolitik muß heute aber unter tiefgreifend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen verwirklicht werden:

 Massenarbeitslosigkeit und Ausbildungsplatz­mangel drohen unsere Gesellschaft zu spalten in Besitzer und Nichtbesitzer von Erwerbsarbeit.

 Es droht die Gefahr der Konzentration von Information und Wissen bei einer Minderheit, die diese dann zur Ausübung ihrer Macht einsetzen kann.

 Es ist tägliche Erfahrung, daß bei dem Bemühen, unsere Umwelt zu retten, die Anstrengungen vieler Einsichtiger gegen die Macht der Interessen weniger erfolglos bleiben.

 Zunehmende Ausbeutung der Dritten und Vierten Welt durch die Industrienationen verschärft weltweit den Gegensatz zwischen Arm und Reich.

 Die weltweit praktizierte Überrüstung bedeutet eine wachsende Bedrohung des Friedens.

Das Verständnis dieser Zusammenhänge und eine die Spaltungstendenzen überwindende Solidarität sind notwendig, wenn die bereits erreichten demokratischen Strukturen unserer Gesellschaft unter diesen Belastungen nicht wieder zerbrechen sollen.

Damit stellt sich heute für Schule verstärkt die Aufgabe, alle Heranwachsenden zur Solidarität fähig zu machen, allen Schülern gemeinsame soziale Erfahrungen als Voraussetzung für solidarisches Verhalten und Handeln zur Entwicklung einer freien und gerechten Gesellschaft zu ermöglichen.

Deshalb bleibt die Forderung nach einer in allen Stufen gemeinsamen Schule für alle Kinder - der Gesamtschule - aktuell. Das Ziel, ein integriertes, In Stufen gegliedertes Schulsystem zu schaffen, wie es im „Modell für ein demokratisches Bildungswesen“ vorgestellt wurde, muß mit einer Reform der Inhalte verknüpft werden, die die existentiellen Fragen unserer Zeit für alle Schüler in den Mittelpunkt stellt und mit einer Reform der Verfahren, die die heranwachsenden für individuelle Selbstverwirklichung und Mitbestimmung in gesellschaftlichen Angelegenheiten fähig macht.

Eine nach diesen Prinzipien integrierte Schule ist als staatliche Schule zu Organisieren: sie benötigt in diesem Rahmen aber freie Gestaltungsmöglichkeiten zu eigener Profilbildung und Spielraum zur Öffnung gegenüber außerschulischen Erfahrungsfeldem. Allerdings darf Öffnung zum Umfeld nicht zu einer naiven Wendung der Schule zum Alltag führen. Die Bezugnahme des Unterrichts auf den Alltag muß mit den der Schule eigenen Mitteln des Fragens, Suchens, Erklärens und Verstehens erfolgen. Die Öffnung der Schule zur Erfahrung des außerschulischen Lebens bedarf also einerseits der Verarbeitung von Erfahrung in der Schule. Die Inhalte schulischen Lernens müssen aber andererseits auf Lebenserfahrung bezogen sein, wenn sie motivieren wollen. Gefordert ist daher eine Doppelorientierung schulischen Lernens. in der die Schule immer mit beidem zu tun hat: mit Distanz und Nähe. Das kann für die viel diskutierten Konzepte von Stadtteil- und Nachbarschaftsschulen zum Beispiel heißen, daß die Öffnung der Schule zum nahegelegenen bürgerlichen Wohngebiet weniger wichtig ist als die Öffnung zu entfernteren Arbeitervierteln - und umgekehrt.

Eine bildungspolitische Strategie muß unterschiedlichen Aspekten Rechnung tragen. Aus der Erfahrung der Zeit nach 1945 wissen wir, daß grundsätzliche Strukturreformen in der Bundesrepublik trotz zeitweisen großen bildungspolitischen Einsatzes außerordentliche Schwierigkeiten haben. Die integrierte Gesamtschule ist immer noch die zahlenmäßig kleinste Schulform. Ihre bildungstheoretische Einschätzung und ihr bildungspolitischer Stellenwert haben sich nicht geändert, es bleibt bildungspolitisches Ziel, sie überall einzuführen.

Dies bedeutet einerseits, die Strukturdebatte entschieden fortzusetzen und alle Möglichkeiten für weiterreichende gesetzliche Regelungen wie auch für die Einrichtung neuer Gesamtschulen zu nutzen, andererseits heißt dies, sich allen bestehenden Schularten gleichermaßen zuzuwenden und - von den dargestellten grundsätzlichen Positionen ausgehend - auch in ihnen die dort möglichen „Integrationsschritte“ zu verwirklichen.

Der Schule fallen dabei wichtige Aufgaben zu:

 Sie hat alle Schüler mit gleichen Angeboten und Chancen politisch zu bilden.
 Sie muß im Geiste der Aufklarung das Wissen vermitteln, das Erkenntnisse. freie Entscheidungen und politisches Handeln möglich macht.
 Sie muß helfen, Informationen eigenständig zu deuten und daraus selbständig richtige Erkenntnisse zu gewinnen.
 Sie muß im Unterricht die Schlüsselprobleme unserer Zeit behandeln, wie
— Sicherung des Friedens nach innen und außen
— Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen
— Ausgleich der Gegensatze zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
— soziale Gestaltung technologischer Entwicklungen
— Sozialpflichtigkeit des Eigentums und
— gleiche Teilhabe von Frauen und Männern am gesellschaftlichen Leben.

Grundlegend für alle bildungspolitischen Konse­quenzen ist die Überzeugung, daß ein humanes, ein menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft nur in der Ordnung der sozialen Demokratie möglich ist.

Dies gilt nicht allein für die Bundesrepublik Deutschland, sondern für menschliches Zusammenleben generell. An den Werten von Freiheit, Gleichheit und Solidarität sollten zunehmend alle Menschen teilhaben bzw. teilhaben können. Verantwortung des einzelnen und der Gesellschaft geht deshalb über die Grenzen des eigenen Lebensbereiches, des eigenen Staates hinaus und erschöpft sich dabei nicht im Interessensausgleich zwischen den Staaten, sondern sucht mit friedlichen Mitteln nach Hilfsmöglichkeiten für alle Unterdrückten, unfreiwillig Abhängigen und Ausgebeuteten.

Veröffentlicht am Dienstag, den 11. März 1986, http://www.harte--zeiten.de/dokument_402.html