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Neue Bundessittenlehre
"Meine Großmutter, das war eine Schwäbin, hat gelegentlich den Satz gesagt: Gutmütigkeit ist oft nahe bei der Liederlichkeit. Wenn Sie Kindern das Aufenthaltsrecht geben, müssen Sie es den Eltern auch geben... ."
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, Interview der Süddeutschen Zeitung, 16. 12. 2005.
"Freiheit, Güte, Gerechtigkeit und Großzügigkeit sind Produktionsfragen, sagte Me-ti zuversichtlich."
Bertolt Brecht, "Verurteilung der Ethiken", Me-ti. Buch der Wendungen.
Oma Schäubles Sentenz angewandt auf den bundesrepublikanischen Rechtstaat bedeutet: die Bundeswehr kontrolliert (zunächst) Fußballfans, Terrorverdächtige könnten nicht 'nur' präventiv abgeschoben, sondern auch strafrechtlich belangt werden, die Verwendung von "Folter-Ergebnissen" in Prozessen wäre gebräuchlich, Folter damit positiv sanktioniert; "Ausländer" blieben besser draußen, sonst verfielen die Sitten.
Dagegen argumentieren Politiker und Anhänger von FDP bis Linkspartei richtig: Das Grundgesetz schützt formal die Würde des Menschen als unantastbar, kennt die Gleichheit vor dem Gesetz, verbietet jede folterähnliche Praxis und legitimiert Freiheitsentzug nur auf Grundlage richterlicher Entscheidungen. Im Zweifel ist für den Angeklagten zu entscheiden. Staatliche Verfolgung begründet (leider seit 1993 eingeschränkt) das Recht auf Asyl. Die Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär ist Verfassungsgebot.
So wurde aus der historisch erfahrenen Barbarei verbindlich gelernt. Jede Erosion dieser Grundsätze erfordert entschiedenes Contra.
Das Revival konservativer Sittenstrenge hat bedenkliche Gründe. Weltweit steigt der Unmut über die wachsende soziale Bedrückung. Das führt oftmals zu verzweifelten Handlungen. Die Ursachen der Verzweiflung zu beheben hieße aber hierzulande wie andernorts die ökonomische (Un-)Ordnung rücksichtsloser Geschäftemacherei zu beenden. Insbesondere das Verdienen am Krieg, seine Förderung und Führung wären einzustellen; sozialer Fortschritt für alle ist dann die realisierbare Alternative. In diesem Gegensatz verteidigt der Spießbürger seine vermeintliche Geltung durch untertänige Willfährigkeit gegenüber Staat und privater Großwirtschaft. Der Raubzug nach außen sucht im Innern seine abscheuliche Entsprechung. Wer nach 'unten' treten kann, steht 'oben'?
Knüppel und Schießeisen sind eben nur die Fortsetzung von Massenentlassungen, Kommerzialisierung und Alltagskonkurrenz. Umfassende Zivilität, argumentative Verständigung und demokratische Kooperation aller sind dagegen die Kultur einer besseren Gesellschaft. Als Grundsätze wissenschaftlicher Weltaneignung und vernünftigen Handelns bedürfen sie der alltäglichen Verwirklichung. Darin liegt das wirksame "Nein" zu allen Zumutungen dieser Zeit. Das Bewußtsein der Gleichheit des sozialen Interesses der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ist hierfür eine befreiende Erkenntnis.
Wenn das "liederlich" ist, dann sind wir Schmuddelkinder.