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Die Laufrichtung ändern.

Zur Auswertung der EU-Wahl

Die neoliberale Selbstentmündigung der Politik und ihre materiellen Folgen stoßen auf massive Unzufriedenheit der EU-Wählerinnen und -Wähler: Die Wahlbeteiligung sank und fast alle regierenden Parteien wurden übel abgestraft, ob national-konservativ oder sozial-liberal. Häufig blieben sozialdemokratische, linke Wähler zu Hause - sie stärkten allerdings dort die europäischen Linksparteien, wo diese mit offensiver Friedenspolitik und weitreichender Gesellschaftsperspektive auftraten (Italien, Tschechien); andererseits verfingen sich viele Bürgerinnen und Bürger in den Fängen nationalistischer Selbstbehaupter; in Ost-Europa überwiegen die rechten Kräfte. Die bestätigte relative Mehrheit der konservativen EU-Fraktion und die teils erheblichen Gewinne rechtsextremer Parteien bekräftigen die Notwendigkeit eines verstärkten Engagements gegen Rechts. Ein friedliches, kultiviertes Europa auf Grundlage einer entwicklungsfähigen sozialen Demokratie braucht ganz offensichtlich eine andere Politik.

Die deutsche Sozialdemokratie nimmt ihre Verantwortung dafür nicht wahr und wird für die Politik umfassenden Sozialabbaus bestraft.
Sozialdemokratische Politik verliert ihre objektive Funktion und damit auch ihre Legitimität, wenn sie nicht sozial und nicht demokratisch ist. Beides läßt sich für die aktuelle Regierungspolitik ohne weiteres feststellen: Die soziale Spaltung nimmt national wie international zu, zahlreiche Steuerentlastungen der Verfügenden und Vermögenden entleeren die öffentlichen Haushalte, die folgende Zerstörung öffentlicher sozialer, kultureller und Bildungs-Einrichtungen entsolidarisiert, entdemokratisiert und dekultiviert das gesellschaftliche Leben. "Friedensmacht für deutsche Interessen" und die eilfertige Wiederannäherung an die Bush-Administration konterkariert die klare Position zum Irak-Krieg und lassen den geplanten europäischen Rüstungswettlauf mit den USA und ein "Ja" zu weltweitem Interventionismus erkennen; die Militarisierung der internationalen Beziehungen stößt aber zunehmend auf die begründete Ablehnung nicht nur der bundesdeutschen Bevölkerung.
Der "Dritte Dritte Weg", nämlich der versuchte Kompromiß zwischen Sozialstaat und neoliberalem "Turbo-Kapitalismus", ist erkennbar gescheitert.

Erfreulicherweise ist den Wählerinnen und Wählern die neoliberal-konservative Opposition mit ihrer weitreichenderen Verschärfung von Privatisierung, Demokratie- und Sozialabbau und Militarisierung auch keine adäquate Alternative.
Vor allem die Grünen konnten erheblich dazugewinnen. Dies ist Ausdruck eines unbestimmten Wunsches nach "Linksverschiebung", der mit dem pseudo-authentischen Wahlkampf ("Öko", "Demokratie" und "Multikulti") populistisch bedient wurde. Im Westen der BRD konnte die PDS durch klare friedens- und sozialpolitische Positionen ihren absoluten Stimmanteil teilweise um 30 Prozent steigern.

In Hamburg hat das konservative Lager eine fiese Schlappe eingefahren. Rot-Grün kommt mit 50 Prozent der Wählerstimmen auf ein beachtliches Ergebnis, wobei die SPD für den Mangel an sozialem Profil gegenüber den Grünen kräftig einbüßt.

Was ist anzufangen mit solchen Wahlergebnissen?
Selbst das konservative Meinungsforschungsinstitut "Allensbach" muß feststellen, daß die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung eine Angleichung des sozialen Lebensniveaus der Gesamtbevölkerung auf hohem Niveau anstrebt (52 Prozent) und höchst unzufrieden ist mit der derzeitigen "Gerechtigkeitslücke" (73 Prozent).
Das uralte humanistische Ziel sozialer Gleichheit als Grundlage persönlicher Entfaltung bleibt also konkreter Anspruch zahlreicher Menschen und damit mögliche Triebkraft allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts.
Vor diesem Hintergrund ist der Mangel an einer formierten politischen Alternative zum neoliberalen Mainstream frustrierend und treibt Bürgerinnen und Bürger in Scharen im besseren Fall ‚aufs Sofa', im schlimmeren Fall in die Arme rechter Rattenfänger. Die schröder-blair'sche bornierte In-Kauf-Nahme dieses gesellschaftlichen Verfalls ist nicht Alternativ- sondern Verantwortungslos: Durch die Fixierung (über-)staatlicher Wirtschaftspolitik auf den Abbau von ausbeutungshemmenden sozialen Errungenschaften zur Verbesserung der "Konkurrenzfähigkeit" wird schrittweise die Binnennachfrage ausgehöhlt, wird die internationale Konkurrenz entfesselt, verwahrlosen produktive Wirtschaftszweige wegen "zu geringer" Profite und wird die Grundversorgung der Gesamtbevölkerung mit Wasser, Strom, Mobilität, Bildung und Gesundheit kühl-ökonomistisch zugerichtet.
Von dieser Politik muß klar Abstand genommen werden. Die internationale Deregulierung der Märkte ist zu stoppen, die sozialen Transferleistungen, die Investitionen in öffentliche sinnvolle Beschäftigung, die Löhne und Gehälter sind zu erhöhen, Arbeit ist gerecht zu verteilen, um die Binnennachfrage zu stärken. Darauf kann wirtschaftlicher Fortschritt aufbauen, der der Abwanderung großer Arbeitgeber entgegenwirkt. Dem öffentlichen Leben in demokratischen, sozialen, kulturellen und bildungsrelevanten Einrichtungen ist erhöhte Bedeutung beizumessen, um der Vereinzelung und Entmenschlichung der sozialen Beziehungen entgegenzuwirken.
Um eine solche Politik durchsetzungsfähig zu machen, muß die Sozialdemokratie als erkennbare politische Alternative zum neoliberalen Zeitgeist auftreten, über die vor-modernen Alltags-Mythen aufklären, um Analyse, Ziele und Strategien streiten und als lebendige, initiierende Kraft für gesellschaftliche Bündnisse wirken.

"'Ach', sagte die Maus, ‘die Welt wird enger mit jedem Tag. Zu erst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.' - ‘Du musst nur die Laufrichtung ändern', sagte die Katze und fraß sie." (Franz Kafka)

Noch ist knappe Zeit, die Richtung zu ändern, um nicht 2006 in die Falle zu gehen.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: juso-hochschulgruppe & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Samstag, den 19. Juni 2004, http://www.harte--zeiten.de/artikel_183.html