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Die Perspektive der Grundrechte
„Das Grundgesetz hatte am Sonntag Geburtstag. Es wurde 72 Jahre alt. Es ist dies kein rundes, es ist ein wundes Jubiläum; das zweite in Corona-Zeiten. Es ist ein Jubiläum in einem Jahr, das damit begann, dass die Kanzlerin Grundrechte als ›Privilegien‹ bezeichnete. (…) Der Grundrechte-Report prangert zu Recht an, dass und wie die Anbieter von Telekommunikationsdiensten gesetzlich zu Erfüllungsgehilfen von Geheimdiensten gemacht werden sollen - indem sie verpflichtet werden, bei der Installation der Spähsoftware mitzuwirken: Mit einem Update beispielsweise, das ein Nutzer oder eine Nutzerin installiert, wird der Staatstrojaner eingeschleust. (…) Bei den Terroranschlägen hatte man trotz aller Terrorangst noch das Gefühl, dass man nicht selbst Opfer werden würde. Bei und mit Corona hat sich das geändert. Das hat die Menschen empfänglich und verführbar gemacht für fast jedwedes Versprechen von mehr Lebensschutz und Sicherheit. (…) Da ist das Bundesverfassungsgericht gefordert. (…) Verwanzte Gesetze sind kein schönes Geschenk zum Grundgesetzgeburtstag.“
Heribert Prantl, „Kein rundes, ein wundes Jubiläum: Zum 72. des Grundgesetzes“, „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“), 23.5.2021.
„SPIEGEL: In der Nachkriegszeit lagen die Firmensteuern [in den USA] zeitweise bei 50 Prozent und mehr. Wird es dazu noch einmal kommen?
Zucman: Das ist ein mögliches Szenario. Das andere ist, dass der Steuerwettlauf so weitergeht wie bisher. Dann würden langfristig die Unternehmenssteuern genauso verschwinden wie die Einkommenssteuer – und damit die finanzielle Basis für eine gerechte Gesellschaft.“
Der Ökonomie-Professor Gabriel Zucman (Berkeley, USA/Kalifornien) im „SPIEGEL-Interview“, „SPIEGEL“ Nr. 22/29.5.2021, S. 64-65, hier S. 65.
„Schuldenbremse heilig - oder nicht? Die eigentliche Frage ist eher: wie sich trotz Schuldenbremse sehr viel mehr öffentliche Investitionen in Ladeinfrastruktur, Wasserstoffleitungen, Schulen, Bahnstrecken und etliche andere ermöglichen lassen. Dass es lohnt, dazu Kredite aufzunehmen, dafür spricht schon die simple Logik, wonach die beste Voraussetzung fürs Schuldentilgen ist, eine leistungsfähige Wirtschaft und viele Beschäftigte zu haben, die dann Steuern zahlen können.“
Thomas Fricke, „Wichtigere Wahlkampfthemen / Jenseits von Gendersternchen und Kurzstreckenflug“, „SPIEGELONLINE“, 28.5.2021.
„Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.“
Karl Marx/Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“ (1846), Marx-Engels-Werke (MEW), Band 3, S.27.
Die wirkliche Wissenschaft ist problemlösungs- orientiert, stellt sich und anderen Fragen, sucht gemeinsam nach Antworten, entwickelt sich in Kooperation und Konflikt, schaut genau, entscheidet sich, macht den Mund auf, regt an, korrigiert oder präzisiert sich und macht weiter
– auf erweiterten Stufenleitern immer wieder neu. Zugegeben: Ein Ideal.
So könnte und sollte es auch im gesamten Leben vor sich gehen: In der Politik, der Verwaltung, in Kunst und Kultur, in der Bildung allgemein sowieso, in der Juristerei, im Alltag und individuell mit anderen gemeinsam.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, beschlossen vom Parlamentarischen Rat am 23. Mai 1949, faßt in Artikel 20 unter anderem die Gesellschaft als demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Darüber hinaus verpflichte das Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit (Artikel 14, Satz 2). Enteignungen sind möglich (Satz 3 und Artikel 15).
Die Präambel beinhaltet ein Friedensgebot, am Anfang der Grundrechte steht normativ die Würde des Menschen. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit der Meinung, der Medien, der Kunst und der Wissenschaft, die Freiheit, sich zu assoziieren, die Berufsfreiheit sowie die Bewegungsfreiheit sind grundrechtlich garantiert.
Dem widersprechen und widerstehen – juristisch und praktisch - nicht nur die Artikel 109 und 115 des Grundgesetzes zur „Schulden- bremse“. Gegen die grundrechtliche Agenda stehen ebenso der fortgesetzte Lockdown mit seiner allseitigen Reduzierung der Gesellschaft und der Bevölkerung.
Gleichfalls grundrechtsfern ist die soziale Ungleichheit, das Betreiben von Angriffskriegen, die Rüstungsexporte (meist in Krisengebiete), die Umweltpolitik (z.B. bezüglich des Klimas), die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, die mangelhafte Entwicklung von Gesundheit, Bildung, Sozialem und Kultur sowie die häufige politische Defensivität gegenüber rechtsextremen Kräften.
Auch die zunehmende Überwachungstätigkeit des Staates entspricht nicht den Schlußfolgerungen aus der Geschichte.
Da ist also viel zu tun, um die Praxis bzw. die Entwicklung der Gesellschaft mit den historischen Anforderungen des Grundgesetzes in Stimmigkeit und Einklang zu bringen. Dafür bedarf es nicht zuletzt einer Wiederöffnung der Gesellschaft – auch der Hochschulen! -, an der sich Alle beteiligen können. Ein besseres Leben ist immer richtig und möglich. Das ist zu entscheiden.