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Großbritannien: Der Wandel ist nicht aufzuhalten

„Die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit und der Bedürfnisse der Bevölkerung verschwinden nicht, nur weil der Brexit – zumal auf die Art, die Boris Johnson gerade offenbar plant – durchgezogen wird. Alle diese Themen werden bald wieder im Rampenlicht sein, und die grundlegenden Botschaften von Labour für Gerechtigkeit und Gleichheit in unserer Gesellschaft werden erfolgreich sein. (…) Wir werden für immer die Sache des Sozialismus und der sozialen Gerechtigkeit verfolgen: für eine Gesellschaft, die darauf beruht, die Bedürfnisse aller zu befriedigen, statt die Gier von Wenigen. Das macht unsere Partei zu dem, was sie ist. (…) Ich sag Euch was: Diese Prinzipien und Ideen sind ewig und werden immer da sein.“

Jeremy Corbyn in seinem Wahlkreis (Islington/Nord-London), 14.12.2019.

„Take back control“ – die Kontrolle über das Land wiedergewinnen – ist ein Slogan für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Diese Kampagne von Tories und Medien (85 % der britischen Presse gehören 5 Milliardären) war rassistisch und nationalistisch. Aber die Mehrheit der Menschen unter 45 hat einen ganz anderen Begriff von „take back control“: einen sozialistischen! Hier wurde für Labour und damit für die soziale Transformation der Gesellschaft gestimmt, besonders von den unter 30-jährigen (über 60 Prozent!). Schon ihre Lebenserfahrung ergibt, dass Kapitalismus und Krise ungefähr dasselbe sind. Insgesamt haben jedenfalls 32 Prozent der Briten für Labour gestimmt. Welche Sozialdemokratie auf dem Kontinent erreicht derzeit solche Ergebnisse?

Das Labour-„Manifesto“ basiert auf der Gleichheit der wesentlichen Interessen der Menschen (Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Bildung, Frieden…). Diese Bedürfnisse – inklusive dem zügigen Umbau der Industrie für ökologische Nachhaltigkeit – zu befriedigen erfordert: Rücknahme der Privatisierung von Bahn, Telekommunikation, Schwerindustrien etc., demokratische Gesamtplanung der Wirtschaft, massive öffentliche Investitionen, eine Offensive für Bildung und Qualifikation auf allen Ebenen, die Mitbestimmung aller an den Entwicklungsfragen der Gesellschaft – in Kommunen, Betrieben, Bildungseinrichtung und überall. Dafür sind die Abschaffung von Bildungsgebühren, die Sicherung und der Ausbau der Gesundheitsversorgung, gutes Wohnen auf öffentlichem Grund und vieles mehr angestrebt: Gleiche Rechte und Lebensmöglichkeiten für alle Teile der enorm heterogenen Bevölkerung des „Vereinigten Königreichs“.

Jeremy Corbyn hat recht: Diese Themen verschwinden nicht. Nicht nur, weil der Tory-Reaktionär Johnson lieber die britische Daseinsvorsorge für US-Kapital öffnet als mit der EU um vernünftige Marktregulierung zu verhandeln. Sondern weil die Bevölkerung schon jetzt wieder gegen den bornierten, rassistischen Armenhass der Tories auf die Straßen geht.

Warum haben sich die Linken dann noch nicht durchgesetzt?
Ein demokratischer Umbruch zu einer sozial egalitären Gesellschaft in der viertreichsten Industrienation, die zudem Mitglied der NATO, Atomwaffenbesitzerin und eine Monarchie ist, bleibt nicht ohne Gegenwehr. In der Abwehr von Labour hat die Jauchegrube konservativen und kapitalistischen Machterhalts ihren ganzen Gestank und ihr Gift freigesetzt – Lügen, Bedrohung und sogar vereinzelt Mord. Labours Anliegen ist, die tief gespaltene Bevölkerung über die soziale Frage und die alle kulturellen Backgrounds inkludierende Bewegung wieder zusammen zu bringen und der Menschenfeindlichkeit sozial und ideologisch jeden Boden zu entziehen.

Hätte sich Labour deshalb deutlicher gegen den Brexit positionieren müssen? Viele Labour-Aktivisten sagen, das hätte sie zerrissen, weil ein Teil überzeugte Remainer sind und andere hoffen, ein neu verhandelter Brexit würde vor den neoliberalen Diktaten – man denke an Griechenland! – schützen. Sie streben eine Art „Norwegen-Status“ an. Zugleich will Labour die Teile der Arbeiterschaft mit Aufklärungsarbeit erreichen, die nach 40 Jahren Verarmung und Ausschluss selbst konservativ und EU-feindlich sind. Jede Veränderung, die sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, war eine Verschlechterung. Da ist erst mal das Gegenteil zu beweisen.

Vielleicht wäre eine Option gewesen, offensiv „Remain“ zu fordern, aber mit einer harschen Kampfansage an die undemokratische, marktradikale und rüstungsorientierte EU: nicht nur Großbritannien, sondern die EU vom Kopf auf die Füße stellen! Dies hätte aber erfordert, dass die kontinentalen Linken und besonders die SPD ein klares Signal senden, gleichfalls unbeugsam für diese Veränderung zu kämpfen, sonst ist dies eine offenkundige Überforderung.

Der politisch-soziale Konflikt auf der Insel ist auch für hier beispielhaft: Nicht nur die sozialen, ökonomischen und ökologischen, sondern auch die kulturellen, psychischen und ideologischen Verheerungen des neoliberalen Kapitalismus müssen überwunden werden – in Programmatik und Haltung: überall radikal solidarisch!
Die Erfahrung des gemeinsamen Aufbruchs, der Menschenfreundlichkeit und des Lernens in verantwortlicher Aktivität ist eine ungeheure Befreiung von der verborgenen Depression unserer extrem ungleichen Leistungsgesellschaften. Diese Erfahrung setzt sich fort ...

V.i.S.d.P.: Golnar Sepehrnia, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Sonntag, den 15. Dezember 2019, http://www.harte--zeiten.de/artikel_1464.html