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Vernunft oder Kalkül? (Nicht nur für Sozis)

„Scholz ist laut Umfragen der aktuell beliebteste SPD-Politiker. Wäre es da nicht vernünftig, den Vernunftler gemeinsam mit seiner ähnlich veranlagten Mitstreiterin Klara Geywitz an die Spitze der SPD zu wählen?
Doch auch im Bild des Vernunftpolitikers versteckt sich ein anderes, nämlich die Angst, dass die Vernunft die Partei in den Ruin getrieben hat und es weiter tun wird.
Die Verlängerung der Vernunft ist der Opportunismus. Und aus der Sicht seiner Kritiker ist Scholz stets jemand gewesen, der sich dem falschen Zeitgeist angepasst hat. Norbert Walter-Borjans, der ehemalige Finanzminister von Nordrhein-Westfalen und ein Mitbewerber um den Parteivorsitz, hält ihm das immer wieder vor. Ohne Scholz namentlich zu nennen, spricht er dann von den ‚Fahrern des SPD-Busses‘, die in den Nullerjahren die ‚falsche Abzweigung gewählt‘ hätten – die ‚in die neoliberale Pampa‘. Dorthin also, wo das Elend der SPD begann.“

Peter Dausend: „Im Kerker der Vernunft“, in: Die Zeit 41/2019.

Kann Vernunft wie ein Kerker sein?

Wer das behauptet, hat eine sehr negative Auffassung von dem aufgeklärten Diktum, „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Das bedeutet: Die Welt und das persönliche Leben positiv zu gestalten, setzt das Verstehen der natürlichen sowie gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse voraus. Nicht gemeint ist: die Gegebenheiten zu fürchten wie Götter.

Die Krise der Volksparteien CDU und SPD ist nicht Ausdruck von zu viel Vernunft. Eher ist sie die Folge der Selbstabschaffung von Politik: Wirtschaftsliberalen Think-Tanks folgend wurden ökonomische Mythen zu einem demokratieverengenden Rahmen zusammengefügt. Als Beispiel sei die Behauptung genannt, Globalisierung und Digitalisierung müssten zwangsläufig zu verschärfter Weltkonkurrenz und Verlust von Arbeit führen; dem müssten sich alle mit Verzicht auf soziale Sicherung und Tarife, mit Privatisierungen, Deregulierung und steuerlicher Reichenbeglückung anpassen. Das rette Wettbewerbsfähigkeit und damit Wohlstand. Gefährlicher Blödsinn! Er führt dazu, dass in den letzten zehn Jahren, trotz Aufschwung und sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung, die soziale Polarisierung zwischen ganz reich und ganz arm historisch neue Formen angenommen hat.
Wer diese Mythen akzeptiert, kann Merkel wählen und Scholz „mögen“.

Der bessere Sinn von Sozialdemokratie ist jedoch, gesamtgesellschaftlich solidarisierende Wege zu entwickeln, um Ungleichheit, Krieg und Klimawandel zu besiegen. Sie kann mit Erwerbstätigen, Lernenden, Gewerkschaften und Migranten, mit Erwerbslosen und Rentnerinnen, Künstlern, Friedensbewegung und Klimaaktivisten an einer besseren Welt bauen. Sie muss dafür analysieren und sagen, was Sache ist. Sie muss daraus eine Perspektive entwickeln, die soziale Wohlfahrt, industrielle Produktion, Demokratie, Nachhaltigkeit und Frieden in kluger Zusammenarbeit vereint. Sie kann das nur, wenn sie relevante öffentliche Kontroversen innerparteilich austrägt, damit tragfähige Lösungen entstehen. Sie braucht dafür Offenheit für Kritik und linke Bewegungen, für zivilen Ungehorsam und kulturelle Frechheit. Dann gewinnt sie Souveränität gegen Macht- und Profitinteressen und auch neue Überzeugungskraft.

Diese Erneuerung gelingt nur, wenn alle, die sich solch eine Sozialdemokratie (sei es noch so heimlich) wünschen, dafür stark machen.

Vernunft ist die aktive soziale Verwirklichung humanistischer Ansprüche: klug, kritisch, kollektiv und dynamisch.

V.i.S.d.P.: Golnar Sepehrnia, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Samstag, den 12. Oktober 2019, http://www.harte--zeiten.de/artikel_1443.html