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Nicht nur wohnen: solidarisch selbstbestimmt statt ängstlich und beengt
„In keiner anderen Stadt ist es für Studenten so schwer, eine Wohnung zu finden, wie in Hamburg. Laut einer Analyse des Moses Mendelssohn Instituts (MMI) in Kooperation mit dem Immobilienportal WG-Gesucht ist der Preis für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Hansestadt noch einmal angestiegen – auf durchschnittlich 470 Euro. Im Jahr zuvor lag der Durchschnittspreis noch bei 450 Euro; im Jahr 2013 war ein WG-Zimmer in der Hansestadt im Schnitt für 400 Euro zu haben gewesen. Hamburg liegt mit derzeit durchschnittlich 470 Euro pro Zimmer deutlich über dem Bundesschnitt von 389 Euro.“
„Ansturm auf Studentenbuden in Hamburg“, Hamburger Abendblatt vom 2. Oktober 2019.
„Es ist sehr nützlich, die als hemmend empfundenen Grenzen der Erkenntnis auf den verschiedenen Gebieten festzustellen, um sie zu erweitern.“
Bertolt Brecht: „Me-ti/Buch der Wendungen“, „Forschen nach den Grenzen der Erkenntnis“, entstanden in den 1930er Jahren des Exils.
In der Zeit von Bildungsexpansion und Studierendenbewegung in den 1960ern und 1970ern entstanden massenhaft Wohngemeinschaften. „Sie provozierten“, so schreibt der Soziologe Michael Vester, als „Zonen unkontrollierten sozialen, politischen und auch sexuellen Studierendenlebens, die Ressentiments der [überwiegend konservativen] Öffentlichkeit und der älteren Generation.“ Und sie setzten einen gesellschaftlichen Mentalitätswechsel mit durch. Auch die Wohnheime des Studierendenwerks waren dafür wichtig. In Wohnheimräten mit lebendiger Diskussionskultur, durch künstlerische, politische, soziale und sportliche Aktivitäten, internationale Begegnung, Proteste und Feste wurde studentisches Leben offensiv entfaltet – gegen erhebliche politische Widerstände, Spießigkeit und sozialen Druck.
In diesem Kontrast lässt sich das soziokulturelle Desaster der heutigen Wohnungsnot und der Studierendenwohnheime ermessen: In Hamburg studieren 109.000 Menschen. Die meisten (auch die Privathochschüler) haben zwar formell Zugang zu den 4.300 Wohnungen des Studierendenwerks. Aufgrund öffentlichen Drucks sollen diese in den kommenden Jahren um lächerliche 1.700 Wohneinheiten ausgebaut werden. Dafür verkauft die Stadt dem Studierendenwerk Grundstücke, damit es die Neubauten auf Kredit finanzieren kann, was dem Staat wegen der „Schuldenbremse“ unsinnigerweise verboten ist.
Der Druck zur geschäftsmäßigen Organisation des Studierendenwerks wird damit noch größer. Dabei ist das Studierendenwerk eigentlich eine von Studierenden für Studierende erkämpfte sozialstaatliche Einrichtung. Es reicht aber angesichts neoliberaler Rahmenbedingungen den Druck weiter und nimmt hohe Mieten, nutzt Sanierungen für Mieterhöhungen, zieht belastende Baumaßnahmen ohne (finanziellen) Ausgleich durch und lässt Wohnheime verfallen. Anstatt emanzipatorische Bildung gerade gegen soziale Drangsal zu unterstützen, mutiert es zur Kontrollinstanz, indem es von Studierenden z.B. Rechenschaft über Alter und Studiendauer verlangt und ein unpolitisches Verhalten nahelegt. Damit begünstigt es in den Wohnheimen eine hochproblematische Cliquenbildung und konkurrenzhafte Kompensations-Kultur, die scheinbar Entfremdung und Vereinzelung im Studium ausgleicht, aber tatsächlich viele Kommiliton*innen erst recht in Bedrängnis stürzt.
Als Studierende und Bürger*innen dieser Stadt können wir die sozialen Grundlagen für selbstbewusste und solidarische Gemeinwesen neu erobern. „Raus von zuhaus‘!“, gemeinschaftliche Lern- und Lebensweise, ambitionierte Aktivität und Begegnung und die Nähe zum Hochschulort sind elementar für gelingende Bildung, soziales Engagement und studentische Mitbestimmung nicht nur fürs Studium; die ganze Gesellschaft bedarf einer neuen solidarischen, demokratischen Verantwortungskultur.
Auch wenn es bisher kaum leistbare Wohnungen gibt, werden Möglichkeiten geschaffen, das zu ändern: Die Kampagne „Schuldenbremse streichen“, das Bündnis #einfachwohnen, das Engagement in Studierendenschaft, Wohnheimräten, linken studentischen Vereinigungen und aufmerksame Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten eröffnen nicht nur neue Wohn-, sondern solidarische Handlungsräume zur allseitig förderlichen Entfaltung.