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Mehr Bildung für alle!
Wissensgesellschaft und Lebenslanges Lernen, zwei Lieblingsvokabeln der aktuellen Bildungspolitik. Sie verweisen darauf, daß es für die Gesellschaft insgesamt und die Teilhabe des Einzelnen an ihrer Entwicklung unumgänglich ist, auf hohem Niveau die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung auszuschöpfen. Ebenso ist es für die Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaft und Teilhabe der Einzelnen erforderlich, soziale Interessenkonflikte und Risiken analysieren und zu Lösungen beitragen zu können - im Konkreten wie im Allgemeinen.
Ausdruck der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Qualifikation in den hochentwickelten Ländern ist der wachsende Anteil wissenschaftlich Gebildeter (die Bundesrepublik glänzt hier nicht gerade durch eine "Akademikerschwemme").
Wer dem Erfordernis höherer Qualifikation nicht entspricht, wird von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt - schon ist von Nicht-IT-Nutzern als neuen Analphabeten die Rede. Die Konsequenz daraus müßte eine neue Bildungsoffensive sein: Umfassendere Bildungsmöglichkeiten als soziales Grundrecht, offene Bildungszugänge, Recht auf Weiterbildung, wirtschaftliche Absicherung von sich Bildenden.
Bildungsteilhabe als neue soziale Frage
Das Bildungswesen befindet sich in einer rasanten Entwicklung: Erweiterte Lernziele bereits in Grundschulen (z.B. Fremdsprach- und Computerunterricht) neue Aufbau-, Ergänzungs- und Spezialstudiengänge, Privathochschulen. Der Bereich der beruflichen Weiterbildung ist der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig überhaupt. Die Möglichkeiten zum allgemeinen lebenslangen Lernen werden immer wichtiger.
Um so absurder erscheint es daher, daß die Debatte um Bildungsteilhabe allgemein beim Erststudium endet. Damit wird im Rahmen der Studiengebührendebatte so getan, als sei Bildung etwas, was nach einem berufsqualifizierenden Abschluß erledigt sei und als bestünde kein Erfordernis, Weiterqualifikation durch staatliches Handeln zu gewährleisten.
Lerndressur mit Studienkonten
Soziale Schranken vor Hochschulbildung werden auch von der Bundesregierung für ein Problem gehalten. Doch im Gegensatz zu den Erklärungen vor der Wahl ist von einem bundesweiten Studiengebührenverbot im Hochschulrahmengesetz (HRG) nicht mehr die Rede. Im Gegenteil, die Möglichkeit, Studiengebühren zu erheben, soll zu einem angepaßteren, schnelleren Studium dressieren. Das klingt bei dem Urheber des gegenwärtig diskutierten Studienkontenmodells, dem rheinland-pfälzischen Wissenschaftsminister Zöllner natürlich viel, viel netter.
Da ist von dauerhafter Sicherung des gebührenfreien Erststudiums die Rede. Zukünftig sollen alle Studierenden zu Beginn des Studiums ein Studienkonto mit "mindestens 10% mehr" als die jeweils für ein Studium gemäß Studienordnung erforderliche Semesterwochenstundenzahl (SWS) erhalten. Diese Semesterwochenstunden soll man - bei einer Mindeststundenzahl von 8-10 SWS nach eigener Studienplanung für ein Studium aufwenden können. Zöllner erhofft sich davon "positive Anreizstrukturen für Studierende, ihr Studium zügig zu absolvieren". Aber nur wer sein Studium innerhalb der Regelstudienzeit abschließt und das Studienkonto nicht aufbraucht, der soll die verbleibenden SWS für spätere Weiterbildung nutzen können. Ungeschoren soll davonkommen, wer länger als die Regelstudienzeit braucht, jedoch mit dem Studienkonto auskommt. Teuer soll es aber zukünftig für alle werden, die das Studienkonto vor Abschluß des Studiums aufbrauchen. Das kann bei 10% Toleranz über der Mindeststundenzahl schnell mal passieren. Hier mal eine belegte Vorlesung geknickt (krank gewesen, gearbeitet, zu Tode gelangweilt), dort mal eine Prüfung nicht auf Anhieb geschafft und eine Übung wiederholt - wem wäre das noch nie passiert. Dabei ist von den Stunden, die man für ein Interdisziplinäres Studium (oder auch nur einen Fremdsprachkurs) braucht, noch gar nicht die Rede. Das Zöllner-Modell bietet damit mehrere finanzielle Instrumente, um auch in Zukunft die Studienzeiten im Effekt verkürzen zu können - sei es über Senkung der "erlaubten" Überschuß-SWS, der Sockel-SWS oder über eine Erhöhung der wöchentlichen Pflicht-SWS - und genau das will die Bundesregierung.
Das Studienkontenmodell will offenbar das Leitbild des strebsamen Schmalspurstudierenden durchsetzen. So wird es ja seit Jahren von der Wirtschaft gepredigt.
Viele glauben, es sei gut für sie, sich daran zu orientieren, was potentielle Arbeitgeber für richtig halten. Verrückt, wenn man sich anschaut, daß die Wirtschaft offenkundig nicht im Stande ist, den eigenen Arbeitskräftebedarf über fünf Jahre zu planen.
Verrückt aber auch, wenn an Hochschulen nur noch gelernt werden sollte, was im kurzsichtigen Interesse irgend eines Shareholder-Value das angemessene Qualifikationsprofil sein soll, die Frage nach gesellschaftlicher Nützlichkeit aber leider den Kontenrahmen sprengt.
Verrückt nicht zuletzt auch, sich in den Entwicklungsmöglichkeiten, die ein Studium für die eigene Persönlichkeit bietet mit dem bescheidet, was (vielleicht) ein Arbeitgeber von einem im Vorstellungsgespräch hören will.
Wir wollen mehr. Für alle.