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Das allgemeine Wohl: Eine Fata Morgana?
„Hamburg ist eine sehr optimistische, der Zukunft zugewandte Stadt. Das zeigt sich in allem – etwa der Wirtschaftskraft oder der wachsenden Bevölkerung. Wir wollen gemeinsam diese optimistische Grundeinstellung aufgreifen und dafür sorgen, dass sich Hamburg gut fortentwickeln kann. Das hat viele Konsequenzen. Ein großes Projekt, das diesen optimistischen Geist atmet, ist sicherlich die Olympia-Bewerbung. Wenn alles gut geht, werden wir an einer zentralen Stelle in der Stadt, auf dem Kleinen Grasbrook, einen neuen Stadtteil bauen.“
Olaf Scholz (Erster Bürgermeister, SPD) im Interview mit dem Hamburger Abendblatt, 16.4.2015.
„Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort und in einem wirklichen Gemeinwesen unbekannt. (...) Je vollendeter die Staatsverfassung ist, desto mehr überwiegen die öffentlichen Angelegenheiten in den Augen des Staatsbürgers die privaten. Es gibt dann sogar weit weniger Privatangelegenheiten, weil von der Summe der allgemeinen Wohlfahrt ein weit beträchtlicherer Teil auf die des einzelnen übergeht, und derselbe deshalb durch eigene Sorge weit weniger zu erringen braucht. In einem gut verwalteten Gemeinwesen eilt jeder zu den Versammlungen; unter einer schlechten Regierung hat niemand Lust, auch nur einen Schritt darum zu tun, weil an dem, was dort vorgeht, niemand Anteil nimmt. Es lässt sich voraussehen, dass der allgemeine Wille dort nicht zur Herrschaft gelangen wird, und die häuslichen Sorgen keine anderen Interessen zulassen. Aus den guten Gesetzen gehen noch bessere hervor, aus den schlechten noch schlechtere. Sobald man bei Staatsangelegenheiten die Worte hören kann: »Was geht das mich an?«, kann man darauf rechnen, dass der Staat verloren ist.“
Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechts, Buch III, Kap. 15, 1758.
Im Regierungsprogramm von „Rot-Grün“ findet sich kein Begriff von: „Allgemeinwohl“. Stattdessen aber: „Schuldenbremse“, „Schuldentilgung“, „Wettbewerb“, „Wirtschaftskraft“... und „Optimismus“ und „Olympia“.
Weder vom wirklichen Reichtum, noch von Armut, die in Hamburg schon bemerkt wurde (immer noch die Hälfte der Kinder im Bezirk Mitte leben unter der offiziellen Armutsgrenze), ist die Rede.
Seit der frühen Aufklärung (z.B. durch Rousseau) ist bekannt, daß gesellschaftliche Produktivität in den Händen einer Minderheit zu einem Reichtum gerinnt, der Armut schafft. In dieser Hierarchie werden enge Selektionsprinzipien z.B. am Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem, gegen Migranten oder Ältere geschaffen, die für alle unproduktiv und unerfreulich sind. Diesen gesellschaftlichen Strukturen wirken vielfach alltäglich praktizierte Anteilnahme, Kollegialität und Interessenvertretung entgegen. Daß dieser Widerspruch bisher nicht positiv entschieden ist, führt dazu, daß eine schöne, reiche und internationale Stadt zugleich die Stadt mit einer der höchsten Burn-Out-Quoten der Republik sein kann.
Alle brauchen für ein menschenwürdiges Leben: Inklusive Schulen und Kulturstätten, Universitäten, Gesundheits- und Jugendzentren, preiswerte ökologische Mobilität und Energie, anständige Wohnungen und angemessene Arbeit sowie echte Beteiligung an der demokratischen Entwicklung der Gesellschaft.
Investitionen und zivile internationale Beziehungen dafür sind aus dem produktiven Reichtum der Hansestadt jederzeit realisierbar. Aber sie müssen von engagierten Menschen durchgesetzt werden. Das ist der Sinn der wachsenden sozialen Bewegungen aus Schulen, Hochschulen, Kinder- und Jugendarbeit, Kitas, Gewerkschaften, Friedensbewegung, an denen sich alle beteiligen können. Und die so gebildete Solidarität ist selbst eine kämpferische Freude.
„Olympia“? Ein Kommerzfest von vier Wochen, in neun Jahren, ist dagegen nur eine Luftspiegelung dieser Möglichkeit. Nicht reell. Das gute Leben zu verwirklichen gelingt, wenn wir jetzt und hier damit beginnen.