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Wer darf studieren?
,,Bildungsexpansion heißt mehr Bildung für mehr Menschen - das befürworte ich -, aber nicht Universitätsstudium für alle. (...) Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie, dass das ganze Pisa-Programm auf berufliche Verwertbarkeit und nicht auf Persönlichkeitsbildung ausgerichtet ist: Warum bezieht sich Lesekompetenz in den Textfragen fast ausschließlich auf Gebrauchstexte und nicht etwa auf literarische Texte? (...) Es findet gegenwärtig keine Bildungsexpansion statt, die soziale Selektivität in Deutschland ist skandalös hoch, höher als in den siebziger Jahren. Ich bin sehr für eine durchdachte Bildungsexpansion. Wir werden bald 60 Prozent Studienberechtigte pro Jahrgang haben, in manchen Städten liegen wir schon bei 70 Prozent. Meine These ist, dass sich daraus eine neue Qualität ergibt - eine negative. Wir gefährden den Kern des deutschen Wirtschaftsmodells, die auf exzellenten Qualifikationen begründeten mittelständischen Unternehmen, die auf dem Weltmarkt mitspielen können. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass, wenn alle studieren, alle in Zukunft Führungsfunktionen in Staat und Wirtschaft einnehmen werden? Das ist naives Wunschdenken.“
Julian Nida-Rümelin, Philosoph und SPD-Politiker: ,,Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1.9.13, S. 3.
Tiger oder Bettvorleger?
Die Notwendigkeit großer sozialer Veränderungen ist global täglich offenkundig. Umweltverseuchung, Kriegsgefahr, ökonomische Zusammenbrüche oder Depression sind tägliche Erschütterungen. Für alle. Nicht viele halten das noch nur für ,,Auswüchse“ eines ansonsten ,,leistungsfähigen“ Systems. Die strukturelle Ungleichmacherei hat Ursache und Folgen. Nach menschlichem Ermessen ist sie nicht rational.Beispielsweise führt die aktuelle Bankenfütterung -oft auch umschrieben als Schuldenbremse, zur ,,Sicherung der Zukunft“ für nachkommende Generationen - zur verschärften Unterfinanzierung des Bildungssystems. Daß derzeit tausenden Studienbewerbern für ,,Ba“ und ,,Ma“ das Studium versagt bleibt, die Strapaze verwertungsorientierten Lernens in ,,G8“-Schulen und Bachelor-System sowie immer schlechtere Arbeitsverhältnisse (auch für Akademiker/ innen) sind gesellschaftlich gemachte Tatsache - im Interesse z.B. der ,,Arbeitgebervertretung“ Handelskammer, die sich gegen grundlegende Änderungen einsetzt.
Gegen politisch geschaffenen Mangel nebst nagender Konkurrenz und nationaler Chauvinismen ist also viel planende Vernunft und eine engagierte Sozialkritik mündiger Menschen vonnöten - folglich auch mehr und lebensbegleitend wissenschaftliche Bildung aller. Gerade darin besteht die nötige Aktualisierung der emanzipatorischen Bildungsreform des 20. Jahrhunderts, von der Nida-Rümelin zurecht sagt, daß sie nicht an den klassischen (humanistisch orientierten) Studienstrukturen von Magister und Diplom gescheitert ist, sondern durch die Unterfinanzierung der Hochschulen ,,sabotiert“ wurde.
Diese Sabotage war Ausdruck einer globalen neoliberalen Wende Ende der 1970er Jahre hin zum Primat des Marktes über die Menschen. Damit wird jetzt weltweit - nicht zuletzt an den Hochschulen - aufzuräumen begonnen.
Nötig dafür ist eine Politik, die eine sinnvolle Priorität setzt: In den Mittelpunkt gehört der Mensch - aufgeklärt, mündig, solidarisch und demokratisch partizipierend, somit geistig und gesellschaftlich produktiv. So können auch alle, wahrhaft demokratisch, kooperativ die gesellschaftliche Entwicklung leiten. Jedenfalls ist deutlich: Weder der Besitz von Aktien noch Ochsentouren durch Berufspraktika, ,,wissenschaftliche Bestenauslese“ oder Wahlkreise haben sich als Qualifikationswege für die verantwortliche ,,Führung“ von Staat und Wirtschaft (sowie von Wissenschaft, Kultur oder sozialem Gemeinwesen) bewährt.
An die Stelle von ,,Aufstieg“ und ,,Talenten“ in der Konkurrenz auf dem ,,Weltmarkt“ sollte daher die persönliche Entfaltung als Teil globaler solidarischer Verbesserungsarbeit gesetzt werden.
Das ist täglich kämpferisch, möglich und sinnbringend.