Menü | HomePublikationenharte zeiten › Artikel 1 einer Zeitung von harte zeiten vom

Umkehrung

Stern.de: Ihr Fall zeigt: Manager können auch bescheiden sein. Ein, zwei Millionen Euro sind auch ein schönes Einkommen. Sehen Sie sich als Vorbild?
Hans Peter Keitel: Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Jedes Unternehmen ist anders, jede Zeit ist anders. Jeder hat seine Wertvorstellungen.“

H.P. Keitel, Chef des Bundesverbandes deutscher Industrieller (BDI), stern.de, 2. April 2011.

„»Ich«, sprach er, »bin der volle Sack.
Ihr Ähren seid nur dünnes Pack.
Ich bin's, der euch auf dieser Welt
In Einigkeit zusammenhält.
Ich bin's, der hoch vonnöten ist,
Daß euch das Federvieh nicht frißt;
Ich, dessen hohe Fassungskraft
Euch schließlich in die Mühle schafft.
Verneigt euch tief, denn ich bin der!
Was wäret ihr, wenn ich nicht wär'?«
Sanft rauschen die Ähren:
»Du wärst ein leerer Schlauch,
Wenn wir nicht wären.«“

Wilhelm Busch, „Ein dicker Sack“, 1874.

Die Freiheit, über Millionen zu entscheiden, ist Herrschaft. Herr Keitel ist nur ihr leitender Angestellter. Während die Unternehmensgewinne der DAX-Unternehmen im letzten Jahr um 66 Prozent stiegen, stiegen die Löhne nicht mal um 3 Prozent. Da ist Bescheidenheit unangebracht. Denn die Zivilisation ist Ergebnis sozialer Kämpfe. Und sie ist weltweit in der Krise.

Es ist das Kernland der Milliardärsherrschaft, es sind die USA, in denen - von den deutschen Medien völlig ignoriert - eindeutig und massenhaft eine bewegende Alternative zum Weiterwurschteln wächst. Der Anlaß ist einfach. Nach der Ent-Täuschung über „Obama“ wurden bei lokalen Wahlen die Republikaner gestärkt. Diese haben dem öffentlichen Dienst und den Gewerkschaften eine Art Vernichtungskampf erklärt. Die Legitimation dafür klingt vertraut: Der Staat sei pleite und könne nur durch massive Kürzungen überleben. Dagegen wendet sich besonders im Bundesstaat Wisconsin Protest, so daß das entsprechende Haushaltsgesetz jetzt auf Eis liegt. Alle sind in Aktion. Sit-ins, Demos, Diskussionen, Streiks und auch die Besetzung des Regierungsgebäudes gehören zur demokratisierenden Dauerpraxis der Bewegung: Solidarität für Gleichheit und Würde. Der sozialkritische Filmemacher Michael Moore formulierte: „Heute verfügen nur 400 Amerikaner über den gleichen Reichtum wie die Hälfte aller US-Bürger zusammen. [...] Sie wollten unsere Seelen haben. Sie wollten uns unsere Würde nehmen. Sie haben uns das Maul gestopft und uns lahmgelegt, damit wir nicht einmal mit ihnen an einem Tisch sitzen und über einfache Dinge wie Klassengrößen oder Schutzwesten für Polizisten verhandeln konnten oder über ein paar Extrastunden Schlaf für Piloten, damit sie ihren Job machen können [...] Und das, meine Freunde, ist der verhängnisvolle Irrtum, dem das Amerika der Unternehmer unterliegt. Tatsächlich haben sie mit ihrem Versuch, uns zugrunde zu richten, dafür gesorgt, daß eine Bewegung entsteht - eine Bewegung, die dabei ist, sich als eine massenhafte gewaltlose Revolte im Land auszubreiten.“
„America Is NOT Broke“ („Amerika ist nicht pleite“), Rede in Madison, Wisconsin, 5. März 2011.

Die europäische Gesellschaft ist durch Aufklärung, Arbeiter- und Friedensbewegung sowie die langjährige Nachbarschaft einer Systemalternative noch immer erheblich sozial reguliert. Darin besteht eine gute Vorbedingung wirklicher Emanzipation. Museen und Theater, Schulen, Hochschulen und Produktionsstätten, Gewerkschaften und (potentiell) linke Parteien, soziale und Friedensbewegung beinhalten die Möglichkeit einer befreienden Praxis in Richtung einer solidarischen Gesellschaft.

Jede Arbeit braucht dafür einen verallgemeinerbaren Sinn. Die Wissenschaften sollten, anstelle privater Gewinne, Humanität produktiv reflektieren. Der Aufklärung in Aktion ist nichts selbstverständlich. Das macht auch gute studentische Interessenvertretung aus.


Weitere Informationen zu diesen Auseinandersetzungen gibt es auf der englischen Wikipedia en.wikipedia.org/wiki/2011_Wisconsin_protests sowie auf der Homepage www.defendwisconsin.org der Teaching Assistants' Association, der Gewerkschaft des akademischen Mittelbaus an der Universität Madison, Wisconsin.

V.i.S.d.P.: Golnar Sepehrnia, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Montag, den 4. April 2011, http://www.harte--zeiten.de/artikel_1028.html