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Demokratische Wissenschaft gestern und heute
Die Geschichte hat Zukunft

„Ich verstehe unter Wissenschaft das Bemühen einer Mehrzahl von Menschen, durch eine umfassende Rationalisierung der natürlichen und gesellschaftlichen Welt und ihrer Zusammenhänge ein Überleben der Menschheit nicht nur zu garantieren in einem schlechten [instrumentellen] Sinne, sondern auch bezogen auf die Perspektive der Verwirklichung von anspruchsloser Gerechtigkeit, gewaltloser Freiheit und unbedingtem Frieden.“

Peter Fischer-Appelt, beim 1. Uni-Präsidentschaftskandidaten-Hearing im Audimax der Uni Hamburg am 1. Dezember 1969.

Vor 50 Jahren, am 12. Dezember 1969, wählte das gerade erst konstituierte Universitätskonzil mit 128 von 130 Mitgliedern (40 Professoren, 40 Studierende, 20 Dozenten, 20 wissenschaftliche Assistenten und 10 Verwaltungsangehörige) im vollbesetzten Audimax in fünf Wahlgängen mit 69 Stimmen den damaligen Assistenten Peter Fischer-Appelt zum ersten Präsidenten der Universität Hamburg. Vorangegangen waren mehrstündige Kandidaten-Hearings am 1. und 12. Dezember 1969, zu denen alle Uni-Mitglieder durch Beschluss des Unikonzils vorlesungs- und arbeitsfrei hatten. In den Hearings wurde über die bevorstehende Reform der Uni-Struktur zur Präsidialverwaltung, die notwendige Studienreform, die soziale Öffnung statt Numerus clausus, die dafür nötige Aufstockung der Finanzmittel und die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft lebendig debattiert.

Noch zwei Jahre zuvor, am 9. November 1967, war die Leitung der Universität, das Rektorat, mit einer förmlichen Feier im Audimax von einem Ordinarius auf den anderen Ordinarius, die damaligen Super-Profs, übertragen worden. Die weiteren Uni-Mitglieder sollten dabei keine Rolle spielen. Den beiden ehemaligen AStA-Vorsitzenden Detlef Albers und Gert Hinnerk-Behlmer gelang es jedoch, vor dem Einzug der Ordinarien ein Transparent zu entrollen: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Diese Aktion hatte Signalcharakter für das steigende antifaschistische, friedenspolitische, demokratische bis sozialistische Engagement der Studierendenbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre.

Die „68er“ wandten sich gegen braune Kontinuitäten: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ sollte auch Bildung und Wissenschaft leiten. Alle Uni-Mitglieder sollten gleichberechtigt am Wissenschaftsprozess mitwirken, um zur Humanisierung des globalen Zusammenlebens beizutragen anstatt für deutsche Industrie- und Machtpolitik verwertbar oder schlicht belanglos zu sein. Es wurden drittelparitätische Mitbestimmung (Profs/Mitarbeiter/Studis), das BAföG als Vollzuschuss (ohne Verschuldung!), das Studium generale und flächendeckend Seminardiskussionen (statt, wie heute, Massenvorlesungen) erwirkt. Neue, gesellschaftskritische, humanistische Ansätze wurden in allen Fächern von Studierenden kämpferisch eingefordert und für sozial verantwortliche Wissenschaften und umfassende Persönlichkeitsbildung partiell durchgesetzt. Die öffentliche und demokratische Wahl von Peter Fischer-Appelt zum Uni-Präsidenten erfolgte gegen rechts-konservative Stimmungsmache in Uni, Presse und Politik, vor allem mit den Stimmen der Studierenden und des Mittelbaus im neu geschaffenen Konzil. Dieser universitäre Prozess zeugt von einem befreienden Umbruch in der ganzen Gesellschaft.

Heute, 50 Jahre später, hat diese demokratische Universität unter Kürzungsdiktaten und neoliberalem Umbau zur „unternehmerischen Hochschule“ seit 30 Jahren erheblich gelitten: Das Uni-Konzil ist abgeschafft; der Hochschulrat ist als Quasi-Aufsichtsrat mit Vertreter*innen aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ eingeführt; die Uni leidet erheblich unter der Unterfinanzierung; der Numerus clausus ist zum Regelfall geworden und mit dem Bachelor-Master-System ist die Auslese nach 3 Jahren Studium und die Ausrichtung des Studiums auf Vorteilsnahme aller Art neu verschärft worden. Selbst Studiengebühren wurden zwischendurch (2004-2011) wieder eingeführt.

Dieser geschäftsmäßige Roll-Back in Wissenschaft und Bildung ist nie überzeugend gewesen – weder zur Lösung gesellschaftlicher noch universitärer Probleme, geschweige denn für eine erweiterte Befreiung von aller Drangsal „moderner“ Zeiten. Die neoliberale „Deregulierung“ (= Entdemokratisierung) führte zu Dequalifizierung, Bürokratie, Verdruss und „Uni-Flucht“. Widerstand dagegen, solidarische Initiative und geschichtsbewusstes Engagement von Studierenden hat es aber immer gegeben und wächst stetig.
So haben linke Studierende 2011 die Gebührenfreiheit des Studiums erneut durchgesetzt, 2014 eine partielle Rekonstruktion demokratischer Mitbestimmung sowie eine erste Entzerrung des Ba/Ma-Studiums erkämpft. Geschöpft wird dieses Engagement aus der Erkenntnis, dass wissenschaftliche Aufklärung und verantwortliche, gebildete Persönlichkeiten heute zur friedlichen, gerechten und nachhaltigen Entwicklung der Zivilisation gebraucht werden. Jetzt stehen neue Durchbrüche bevor. Ein Wiedererwachen sorgfältiger, weltanschaulicher Diskursivität, die Bereitschaft, solidarisch einzugreifen und gegen Rechts für eine soziale Demokratie und für die nachhaltig menschenfreundliche Transformation aller Lebensbereiche aktiv zu sein, kann und sollte die Erfahrungen und Rechte aus der 1968er-Zeit aufgreifen.
Ein Blick zurück weitet die positive Perspektive!

Veranstaltung am Dienstag, den 21.01.2020, um 18 Uhr, im Agathe-Lasch-Hörsaal (ESA B)
Szenische Lesung aus den Uni-Konzil-Sitzungen und Kandidaten-Hearings
anschließend Diskussion mit Prof. Dr. Peter Fischer-Appelt und Publikum