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Und nach dem „Jahr der Geisteswissenschaften“?

„Ist es nicht, nachdem ihr zwei Jahrzehnte dran saßet, schon geradezu verächtlich geworden, ein Gedicht zu schreiben, statt die Südsee mit Autos zu versorgen?“
Bertolt Brecht, „Schriften zur Literatur und Kunst“, 1926.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerufene „Jahr der Geisteswissenschaften“ ist beendet. Was hat es gebracht?

Die Bilanz der CDU-Ministerin Schavan liest sich, wie der Bericht von einer etwas aufgeblasenen Projektwoche an einem konservativen Provinzgymnasium: „Es wurden sieben Wettbewerbe im Jahr der Geisteswissenschaften ausgeschrieben: Die Wettbewerbe »Was sprichst Du?« und »Geist begeistert« [...], der internationale Wettbewerb »Das schönste ABC der Welt« (in Kooperation mit der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH), bei dem »yakamoz« zum schönsten Wort gekürt wurde (türkisch für »die Widerspiegelung des Mondes im Wasser«, sowie der U20-Poetry-Slam mit Finale in Berlin. Außerdem wurde von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen »Der schönste erste Satz« eines Buches prämiert.“ - Und so weiter. (Das Zitat entstammt einer Pressemitteilung des BMBF vom 27.11.2007)

Außerdem wurden noch „die Geisteswissenschaften“ dreier Universitäten als exzellenz-tauglich eingestuft und mit einem Zuschuß bedacht, was aber auch nur die fortgesetzte Unterfinanzierung aller anderen Hochschulen legitimieren soll, zudem der Verschärfung der destruktiven Konkurrenz wissenschaftlicher Einrichtungen dient und - im Rahmen des Konzepts der „Elite-Universitäten“ - die verwertungsgerechte Selektion der Studierenden in Masse und Elite forcieren soll. Eindeutig sollen die Geisteswissenschaften als der Standortökonomie subordinierte Fächer zur Verbreitung von „soft-kills“ und schlechter Unterhaltung („Kultur“) dienen: auf daß die Kassen lauter klingeln.
Das nächste Jahr wird das Jahr der Mathematik.

Das konservative Programm für die Universitäten im allgemeinen und für die Geisteswissenschaften im speziellen ist - wie sollte es anders sein -der neuen neoliberalen Ordnung der Kapitaldevotion umfassendend dienstbar. Daran ändert auch das pseudo-humanistische Wertegebrabbel („wissenschaftlicher Wert“ und „Bildung“) nichts: Denn gemeint ist „Elite“, also die Herabwürdigung der Mehrheit, und die technokratische Qualifizierung zur privat-ökonomischen Verwertung.

Die Zerstörung von kooperativem Lernen, Lehren und Forschen (nicht nur) in den sogenannten Geisteswissenschaften geht mit BA/MA, Gebühren, Kommerzialisierung und Unterfinanzierung sehr weit. Sie hemmt erheblich die Entwicklung ernsthafter wissenschaftlicher Problemlösungen auch in den Naturwissenschaften, weil die Zergliederung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Bedingungen in scheinbar „objektive“ Natur und „immaterielle“ Kultur der Tatsache der menschlichen Gesellschaftlichkeit nicht entspricht. Wäre diese Behauptung wahr, würden wir wohl vermutlich noch auf den Bäumen hocken.

„Geisteswissenschaften“ sind nicht die vielfach legitimatorisch beschworene „Bereicherung“ der Gesellschaft, sondern ein Lebenselixier in einer hochentwickelten, aber höchst widersprüchlichen Zivilisation, weil die Handlungen der Menschen nie besser sind, als die Gedanken, die vorher gefaßt wurden.

Aufgeklärte Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften als kritische Gesellschaftswissenschaften müssen deshalb Orientierung für ein produktives und verantwortungsbewußtes Zusammenleben geben. Das vermehrt die Lebensfreude und ist auch eine wirksame Vorbeugung gegen umfassende Zerstörungen durch eine seelenlose Technik und Ökonomie.

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Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Dienstag, den 1. Januar 2008, http://www.harte--zeiten.de/artikel_684.html